Sie leben wie vor Jahrtausenden und haben sich gegen zahlreiche Einflüsse von aussen gewehrt: Ein Besuch bei den Himba am Kunene River in Namibia.
Für die Himba ist er Himmel und Hölle zugleich. Als wäre der tägliche zehn Kilometer lange Fussmarsch von ihrem Dorf zum Fluss nicht beschwerlich genug: das Schöpfen des Wassers aus dem Kunene River gleicht jedes Mal einer Mutprobe. Karutiajambua weiss, wovon sie spricht. Vor einigen Jahren passierte es: Gleichsam aus dem Nichts schoss ein riesiges Krokodil aus den Tiefen des dunklen Stroms und biss sich in ihrem Oberkörper fest. Wie durch ein Wunder konnte sich Karutiajambua befreien, bemerkte in ihrem Schock aber erst gar nicht, dass die Hälfte ihrer rechten Brust fehlte. Glücklicherweise war bei einer Lodge in der Nähe gerade ein Kleinflugzeug gelandet, das sie in ein Spital fliegen konnte. Angriffe von Krokodilen überlebt hier praktisch niemand. Karutiajambua wird heute in ihrem Dorf deshalb respektvoll Crocodile genannt.
Wenn die Männer von Crocodile Village mit ihren Rindern auf der Suche nach fruchtbarem Grasland tagelang unterwegs sind, amtet sie als Dorfchefin. Mit dem direkt am Kunene gelegenen Camp Serra Cafema von Wilderness Safaris pflegt sie noch immer ein freundschaftliches Verhältnis. Dem Tourismus verdanke sie gleichsam ihr Leben, sagt sie. Und deshalb habe sie auch nichts dagegen, wenn ihr Dorf von den Gästen des Camps besucht werde. Von der westlichen Zivilisation und der von den ehemaligen deutschen Kolonialherren importierten Religion halte sie aber nicht viel. Crocodile und ihre Mitbewohner leben noch wie ihre Vorfahren aus der Steinzeit. Die Himba zählen, wie die Xhosas und Zulus in Südafrika, zu den Bantuvölkern, die im 15. und 16. Jahrhundert aus Zentralafrika in die Gebiete des Südlichen Afrikas eingewandert sind. In Namibia gehören neben den Himba auch die Herero, die Owambo, die Kavango und die Damara zu den Bantuvölkern. Die Bantu bilden denn auch die Mehrheit der zweieinhalb Millionen umfassenden Bevölkerung Namibias.
Haartracht und Schmuck sagen viel aus
Nur einer kleinen Minderheit der Menschen Namibias ist es gelungen, sich westlichen Einflüssen zu entziehen. Gemäss Schätzungen pflegen noch einige Tausend Mitglieder der Himba ihren traditionellen Lebensstil. So wie die Bewohner des Crocodile Village, die ohne Strom und fliessendes Wasser auskommen. Als Nomaden verlegen sie ihr Dorf immer wieder und wandern durch die Halbwüste des Kaokolandes im Nordwesten Namibias – stetig auf der Suche nach Gras und Futter für ihr Vieh. Das unwirtliche Gebiet war den Himba während der südafrikanischen Apartheid-Verwaltung Namibias als Homeland überlassen worden. Heute gehört die Halbwüste zur Region Kunene, gleich wie die Skeleton Coast und das Damaraland.
Bekannt sind die Himba auch wegen der auffälligen Körperbemalung ihrer Frauen. Legendär ist die fettige Creme aus Butterfett, Harz und Ockerfarbe, die nicht nur der Verschönerung, sondern auch dem Schutz vor der Sonne und der Körperreinigung dient. Frisur und Schmuck lassen auf den sozialen Stand der jeweiligen Gemeinschaftsmitglieder schliessen. An der Beintracht beispielsweise kann abgelesen werden, wie viele Kinder eine Himba-Frau hat. Und junge Frauen, die eine Lammhaut auf dem Kopf tragen, signalisieren damit ihre Fruchtbarkeit.
Beeindruckend ist die Bauweise der kleinen und äusserst einfachen Hütten, die in der Halbwüste des Kaokolandes ungeschützt der gnadenlos brennenden Sonne ausgesetzt sind. Im Innern der mit Rinderdung isolierten Häuschen herrscht überraschenderweise eine angenehme Temperatur. Auf den wenigen Quadratmetern des harten Bodens schlafen bis zu sechs Personen. Als Kopfkissen dient ein Stück Holz und ein Tuch übernimmt die Funktion einer Matratze. Die Kinder dürfen bis zum Teenageralter in der Hütte ihrer Mutter schlafen. Verheiratet ist im Dorf niemand, die Gemeinschaft lebt polygam, Eifersucht sei ein Fremdwort. Die Kinder störe es auch nicht, wenn sie nicht wissen, wer ihre Väter sind. Die meisten von ihnen gehen gewollt nicht zur Schule.
Wenn die Himba «nein» sagen, dann bedeute dies auch nein, sagt Forster, unser Übersetzer vom Serra Cafema Camp. Als Owambo spricht er ebenfalls Bantu. Wer deutschen Missionaren habe widerstehen können, fertige auch die namibische Regierung ab, lacht er. Trotz der Bekehrungsversuche haben sich die Menschen des Crocodile Village nicht von ihrem ursprünglichen animistischen Glauben abgewendet. In der Mitte des Dorfes brennt ihr heiliges Feuer. Durch seine Flammen beten Crocodile und ihre Gemeinschaft zu ihren Vorfahren. Obwohl Forster, wie die meisten Namibier, Mitglied einer evangelisch-lutherischen Kirche ist, erfüllt es ihn mit Stolz, dass die Himba ihre kulturelle und religiöse Eigenständigkeit haben bewahren können.
Staudämme als Gefahr für das Weideland
Gefahr für die Himba auf beiden Seiten des Kunene Rivers droht heute von einer ganz anderen Stelle. Der Wasserreichtum des 1207 Kilometer langen Stroms, der im angolanischen Hochland entspringt und in westlicher Richtung die natürliche Grenze zu Namibia bildet, dient nicht nur der Bewässerung landwirtschaftlich genutzter Flächen und der Trinkwassergewinnung. Der Fluss ist hinsichtlich der Produktion von Strom auch für Energiekonzerne von wachsender Bedeutung. Das Kunene-Projekt, ein riesiges Kraftwerk mit Stauseen und -dämmen, war bereits während des Angola-Bürgerkriegs hart umkämpft. Seit der Beendigung des Krieges versuchen die Regierungen Angolas und Namibias, die wirtschaftliche Nutzung des Flusses gemeinsam voranzutreiben. Weitere Staudämme sind in Planung. Die Überflutung fruchtbaren Weidelands traditioneller Stammesgebiete zum Bau von Stauseen bedeutet für die Himba allerdings eine existenzgefährdende Herausforderung. Der Widerstand gegen die übermächtigen Interessen von Energiekonzernen und der Regierungen beider Länder scheint ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein.
Auch für die alte Lodge von Serra Cafema wurde einer der Staudämme, die ohne Vorwarnung ihre Schleusen öffneten, zum Verhängnis. Vor zwei Jahren wurde die ganze Lodge komplett überflutet und zerstört. Im Herbst 2018 wurde das wohl abgelegenste Camp in Namibia etwas weiter vom Wasser entfernt wieder eröffnet. Die acht komplett neu gebauten Villen sind wahre Schmuckstücke. Sie sind alle gegen den Fluss gerichtet und wiederspiegeln die Schönheit und Erhabenheit der wunderbaren Landschaft der Region.
Bevor wir zur Landepiste fahren und unsere Rückreise in die Schweiz antreten, halten wir nochmals im Crocodile Village. Wir verabschieden uns und dürfen Karutiajambuas schöne Tochter Matireike fotografieren. Mit unserer Kamera halten wir einen Moment fest, den es eigentlich gar nicht mehr gibt. «Okuhepa» – wir sagen «goodbye».
Von Markus Weber