Schlicht, unaufgeregt und leise wirkt das eher ländliche Herzstück Japans an der Bucht von Nagoya und doch steht eben dort, in Form von zwei Felsen im Meer, dessen mythologische Wiege.
Für den Neuling ist Japan ein sperriges Land voller Brüche und Widersprüche. Im topmodernen, pieksauberen und effizient funktionierenden Stadtzentrum von Nagoya, der viertgrössten Hafen- und Industriestadt Japans, fühlt man sich zwar auf Anhieb wohl und findet sich auch schnell zurecht, entdeckt man doch in der Flut der schönen sinojapanischen Zeichen hie und da einen vertrauten Markennamen in Neonschrift, an dem man sich zur Orientierung festhalten kann. Doch sehr weit kommt man damit nicht. Hinter einem vielversprechenden «Hotel» beispielsweise folgt der Name nämlich gleich wieder auf Japanisch. Aber wenigstens sind die Metrostationen alle zweisprachig beschriftet. Will man etwas essen, beginnt die Speisekarte zwar mit einem aufmunternden «Menue», danach freut sich aber nur noch das Auge an der dekorativen Schrift, der Mund bleibt trocken. Auch die perfekten Kunststoffattrappen in den Restaurantvitrinen machen die Wahl nicht einfacher, denn es lässt sich nicht erkennen, ob es sich um Süsses oder Salziges, Warmes oder Kaltes handelt, von den Ingredienzen ganz zu schweigen.
Anpassen erwünscht
Mit Englisch kommt man bei den höflichen Einheimischen leider auch nicht sehr weit. Mit einem sprachkundigen Begleiter an der Seite fühlt man sich zwar immer noch wie ein Analphabet und staunt über so banale Sachen wie eine Nudelsuppe, die ganz anders schmeckt, als man erwartet hat; dafür weiss man jetzt aber wenigstens, dass sie aus zwei Sorten Meeralgen, geraffeltem Fisch, Tofu-Stücken und Pilzen besteht. Und das undefinierbare, weich anzufassende Etwas, das man sich zum Dessert ausgesucht hat, ist eine mit dunkler, süsser Bohnenpaste gefüllte Kugel aus gedämpftem Reismehl. Ein warmer Sake sediert den Magen wieder.
Am besten nimmt man all das Neue einfach auf, um es dann später zu verdauen, denn Japan ist eine Herausforderung an die Anpassungsfähigkeit, und dies nicht nur kulinarisch, sondern auch geistig. Nur zwei Stunden trennen nämlich die Moderne von der Urzeit: Die Reise aus der Hightech-Metropole führt im Tragflügelboot quer durch die Bucht von Nagoya zum allerheiligsten Ort des japanischen Archipels und zugleich zu dessen geschichtlichem Ursprung.
Adam und Eva auf Japanisch
Gemäss dem Schöpfungsmythos soll das Götterpaar Izanami und Izanagi einst auf dem Regenbogen gestanden und auf das riesige Urmeer unter sich geblickt haben. Aus einer Laune heraus stiessen sie eine Lanze in die Flut, und als sie diese wieder herauszogen, löste sich von deren Spitze ein Tropfen, der zurück ins Meer fiel und dort die erste japanische Insel bildete – ein göttliches Kind. Der Verbindung der beiden sich liebenden Götter entsprangen in der Folge nicht nur all die anderen dreitausend Inseln des Archipels, sondern auch die Lebewesen und Pflanzen sowie eine grosse Anzahl weiterer Gottheiten – unter ihnen auch Amaterasu, die Sonnengöttin. Von ihr, so will es die Sage, stammen in ununterbrochener Erbfolge die japanischen Kaiser ab.
Um den identitätsstiftenden Mythos für die Massen greifbarer zu machen, wurden vor der Küste bei der Ortschaft Futami zwei Felsen im Meer als Symbole für Izana mi und Izanagi auserwählt. Als Zeichen ihrer ehelichen Verbindung spannt sich zwischen ihnen ein dickes, geflochtenes Reisstrohseil. Der Blick von der Uferpromenade ist bezaubernd, wenn im Morgendunst der grosse Felsen den kleinen Frierenden an der Hand hält, ihn in stürmischer See wie ein Anker sichert oder wenn hinter den zwei in ewiger Liebe Verbundenen die Sonne untergeht. Dass vor einer solch suggestiven Kulisse ein schlichter, hölzerner Traualtar steht, scheint naheliegend. Daneben hat sich über die Jahrhunderte auf der kurzen Uferpartie aber eine dichte Ansammlung von Schreinen und Schreinchen, Ständen und Ständern voll hölzerner Gönnertafeln oder papiernen Wunschzettelchen angehäuft, die kaum Raum zur Andacht lassen. Wer zum Beten kommt, bringt es schnell hinter sich: zwei Verbeugungen und zweimal in die Hände klatschen, um die Götter auf sich aufmerksam zu machen, und zum Abschluss nochmals eine Verbeugung. Andere kommen, um Devotionalien oder Segens- und Wunschkärtchen zu erstehen und damit Gesundheit, Reichtum oder Liebe zu erbitten und eine der unzähligen Froschfiguren entlang des kurzen Pilgerweges zu berühren, die für eine glückliche Rückkehr stehen.
Die Sonnengöttin im Wald
Einige Kilometer landeinwärts liegen im dicht bewaldeten, hügeligen Hinterland die zwei im Vergleich dazu riesigen schintoistischen Schreinanlagen von Ise. Vor 1300 Jahren angelegt und seither mehrmals vergrössert, bildet das der Sonnengöttin Amaterasu geweihte Heiligtum mit dem Ahnenschrein der kaiserlichen Familie die wichtigste nationale Kultstätte Japans. Vorweggenommen sei, dass das eigentliche Hauptgebäude ausschliesslich von der kaiserlichen Familie und gewissen Shinto-Priestern betreten werden darf und es wegen der drei hohen, umlaufenden Holzzäune, welche die Normalsterblichen auf Distanz halten, kaum wirklich sichtbar ist. Auch den meisten Ritualen darf ausser dem Kaiser und der Priesterschaft niemand beiwohnen. Zwar gibt es Fotos und Modelle des Hauptschreins und der Heiligen im nahe gelegenen Museum, aber das Wahre bleibt der Öffentlichkeit seit Jahrhunderten verborgen. Trotzdem pilgern angeblich sechs Millionen Japaner jährlich zu diesem Schrein.
Den heiligen Boden betritt man über eine breite, gewölbte Holzbrücke, an deren beiden Enden Torii stehen – einfache zweidimensionale Holztore aus mächtigen, glatten Stämmen. Breite Kieswege führen die zahlreichen Pilger durch gepflegte Parkanlagen mit knorrigen, kunstvoll gestutzten Föhrensolitären und vorbei an einem grossen, quadratischen Steinbrunnen zur rituellen Reinigung von Händen und Mund. Eine breite Treppe aus Steinplatten öffnet den Blick auf den langsam fliessenden, glasklaren Isuzu-Fluss; tief neigen sich hier die uralten Bäume über das steinige, flache Flussbett. Früher führte der Weg direkt durch den Fluss, was die äussere Reinheit der Besucher garantierte. Der inneren Läuterung dient der weitere Weg zwischen den im Herbst bunt gefärbten Laubbäumen und den jahrhunderte-alten Zypressen, deren mächtige Stämme vor den devoten Berührungen von Millionen Pilgerhänden durch hohe Bambusmatten geschützt sind. Auf dem rund halbstündigen Spaziergang kommt man an Ökonomiegebäuden, Gebets- und Tanzhallen vorbei, die meisten in einfachem Blockhausstil, gelegentlich aber auch mit elegant geschwungenen, mächtigen Ziegeldächern, repräsentativen Zugangstreppen und lauschigen Innenhöfen.
Innen und aussen rein
Jährlich finden hier hunderte von Zeremonien statt, täglich mindestens zwei, wenn weiss gewandete Priester der Sonnengöttin Amaterasu morgens und abends das Göttermahl darbringen. Das Opfer besteht aus Wasser, Reis und Salz sowie Gemüse, Früchten, Meeresgetier, Seetang und Sake; alles von heiligen Orten hergebracht und in aufwendigster Handarbeit zubereitet. Selbst das Dutzend handgefertigter Tonschalen, in denen das Essen der Göttin präsentiert wird, darf der Reinheit wegen nur einmal verwendet werden und wird nach Gebrauch begraben. Diese tägliche Zeremonie sei seit 1500 Jahren nie unterbrochen worden, weder in Zeiten von Kriegen noch während Erdbeben und Überschwemmungen. Die wichtigste Prozession findet allerdings nur alle zwanzig Jahre statt, wenn Amaterasu aus ihrem alten ins neue Haus begleitet wird. Denn alle zwanzig Jahre werden ihr Schrein, die Brücke und alle zur Anlage gehörenden Gebäude von Grund auf, aber exakt nach der alten Vorgabe neu gebaut. Der neue und der alte Schrein stehen dann auf zwei identischen Parzellen direkt nebeneinander. Der nächste Umzug, der 64., wird 2013 vonstattengehen. Das alte Gebäude wird danach abgebrochen.
Der 20-Jahr-Rhythmus, der seit 1280 Jahren eingehalten wird, hat unter anderem zweierlei praktische Gründe: Zwanzig Jahre beträgt die Lebensdauer des unbehandelten Holzes und der Walmdächer, und zwanzig Jahre dauert es, bis eine Handwerkergeneration ihr Wissen bis ins letzte Detail der nächsten vermittelt hat. So ist der Schrein noch heute eine strohgedeckte Blockhauskonstruktion auf Stelzen, wie sie früher als Getreidespeicher dienten, und auch die wenigen dekorativen Beschläge und Schreinbeigaben wie Schwert, Spiegel und Edelsteinjuwelen sind exakte Kopien der Originale. Nicht Kreativität ist hier gefragt, sondern detailgetreue Wiedergabe: Das ist die Kunst, die Tugend und das Wertvolle. Es handelt sich wahrhaftig um jahrhundertealtes Kunsthandwerk in unverfälschter Form, dank dem frischen Material gleichzeitig aber auch um eine Erneuerung. Denn mit jedem Umzug erfährt auf diese Weise die Sonnengöttin und mit ihr das ganze japanische Volk eine reinigende Verjüngung.
Je mehr man sich auf dem Waldweg dem Hauptschrein nähert, desto archaischer wirkt die Umgebung: Die Bäume sind mächtiger und zum Teil krumm verwachsen, das Unterholz wilder und dichter, das Licht diffus. Hier wünschte man sich, für einen Moment alleine zu sein, statt in einem stetigen Strom von plappernden Ausflüglern mitzutreiben. Unvermittelt strandet man am Fuss einer breiten Steintreppe, an deren Ende sich ein letztes Torii erhebt. Ab hier darf nicht mehr fotografiert werden. Wie Ameisen krabbeln die Pilger scheinbar unberührt die Treppe hinauf und wieder hinunter, nachdem sie eine Münze in einen Holzkasten geworfen und kurz gebetet haben. Da sie noch drei hohe, fast blickdichte Holzzäune vom Schrein trennen, geben sie sich nicht einmal die Mühe, ihn besser zu sehen. Mit einem kurzen Blick auf die vier goldbeschlagenen Giebelbalken des Schreins, die wie stilisierte Hörner über den Palisaden gen Himmel ragen, vergewissern sie sich, dass alles genau so ist wie immer und geben gleich wieder ihren Abgang. Hier wird kein Glaube zelebriert. Vergegenwärtigt man sich in diesem Moment den bombastischen Prunk eines Petersdoms, kommt man der japanischen Seele in ihrem Streben nach Einfachheit, Reinheit und Harmonie mit der Natur vielleicht näher.
Von Lucie Paska