Für die Küstenbewohner Norwegens ist Hurtigruten eine Lebensader – diesen Sommer seit 120 Jahren. Die Geschichte einer Reederei, deren Schiffe in Norwegen weit mehr bedeuten als ein Transportmittel.
Als Olaf Loe noch ein Kind war, gab es für ihn nur einen wichtigen Termin, der seinen Tag bestimmte. Sobald sich das Hurtigruten-Schiff dem Hafen seiner Heimatstadt Tromsø näherte, rannte er mit den anderen Kindern an den Kai. Die Buben bestaunten das Schiff und beobachteten, wer ein- und ausstieg und was aus dem Bauch des Kolosses getragen wurde. Kaffee kam da an. Möbel, Werkzeug und frisches Gemüse. Einmal, erinnert sich Loe, seien Holzkisten voll Orangen geliefert worden. Da sie etwas unsanft abgeladen wurden, purzelten die orangen Früchte über den ganzen Kai und die Kinder versuchten so viele wie möglich zu erwischen, bevor sie wieder eingepackt wurden. «Wir kannten jedes Schiff beim Namen», erzählt Olaf Loe. «Wir waren beeindruckt von ihrer Grösse und Modernität.»
Tromsø liegt an der legendären Hurtigruten. Die Seestrasse, die den Süden mit dem Norden Norwegens verbindet. Jeden Tag verlässt ein Schiff Bergen, um durch die engen Fjorde die Strecke nach Kirkenes auf sich zu nehmen. Über 30 Häfen laufen die Schiffe dabei an. Einer davon ist eben Tromsø, 350 Kilometer nördlich des Polarkreises.
Alles begann mit einem mutigen Kapitän
Dort ist Olaf Loe 1948 geboren. Seine ersten Erinnerungen an die Hurtigruten-Schiffe stammen aus den 50ern. Wenige Jahre vorher, während des 2. Weltkriegs, war es das erste und einzige Mal in der Geschichte der Hurtigruten, dass die gleichnamige Seestrasse seit der Inbetriebnahme 1893 nicht mehr regelmässig befahren wurde. Während dem Krieg wurden die Hurtigruten-Schiffe von der norwegischen Regierung für Transportzwecke benutzt. 9 von 15 Schiffen gingen verloren. Ein trauriges Kapitel. Sobald der Krieg zu Ende war, wurde hart daran gearbeitet, die Strecke so schnell wie möglich wieder aufzunehmen und die Flotte wieder auszubauen. Bis 1952 kamen mehr als sieben neue Schiffe dazu. Olaf Loes Erinnerungen trügen ihn also nicht; was er als Kind sah, waren tatsächlich sehr moderne Schiffe für die Zeit.
Die Geschichte der Hurtigruten ist eng verwoben mit der Geschichte des Landes und der Menschen. «Kein Küstenbewohner Norwegens kann sich die Fjorde ohne Hurtigruten vorstellen», sagt Olaf Loe. Sie sind ein sicherer Wert, eine Institution. Diesen Sommer steuert Hurtigruten die Häfen seit 120 Jahren an.
Am Sonntag, 2. Juli 1893, nahm Kapitän Richard With mit dem Dampfschiff DS Vesteraalen in Trondheim Kurs auf Hammerfest. Es war ein heikles Unterfangen: Die Seekarten waren ungenau und besonders im Norden gab es nur wenig Leuchttürme. Tückische Riffe, schmale Sunde, kleine Inseln und Schären stellten grosse Gefahren dar. With hatte angefangen, die Gewässer entlang der Küste sorgfältig zu kartographieren. Unterstützt wurde er unter anderem von der norwegischen Regierung, die ein grosses Interesse daran hatte, eine schnelle und reguläre Schiffsverbindung zwischen dem Süden und dem Norden aufzubauen. Erstens weil die Bevölkerung im Norden versorgt werden musste, zweitens weil die mehr als 2400 Kilometer lange Küste zwischen Bergen und Kirkenes bereits im 19. Jahrhundert zu den reichsten Fischgründen Norwegens gehörte. Es galt, diesen Fisch so fangfrisch wie möglich in den Süden zu bringen, um ihn verkaufen zu können.
Doch mit der regulären Verbindung kam weit mehr als der Handel in Bewegung: Die Hurtigruten-Schiffe wurden zur Lebensader der Bevölkerung im Norden. Zudem markierte die Route den Beginn dessen, was viele als eine Revolution der Kommunikation in Norwegen bezeichnen. Zum ersten Mal hatten die Küstenbewohner die Möglichkeit, auch im Winter miteinander in Kontakt zu bleiben. Bis anhin war die Post zwischen Trondheim und Hammerfest rund fünf Monate unterwegs. Mit Hurtigruten dauerte es nur noch wenige Tage, bis Briefe und Pakete bei den Liebsten ankamen, die schmerzlich vermisst wurden.
Einblick in die norwegische Seele
Auch Olaf Loe hat in Tromsø schon am Kai gestanden und sehr aufgewühlt auf die Ankunft des Schiffes gewartet. Zusammen mit der Familie seines 16-jährigen, verstorbenen Freundes hat er am Hafen dessen Sarg entgegengenommen. Der junge Mann heuerte, wie damals üblich in Norwegen, direkt nach der Schule mit 14 Jahren auf einem Schiff an und war auf den Weltmeeren unterwegs. Bis er krank wurde und in einem Spital in Marseille starb. «Hurtigruten hat ihn nach Hause gebracht», sagt Loe. Er selber wollte nie auf einem Schiff arbeiten. Stattdessen ist er mit Trucks durch den ganzen Kontinent gefahren, bevor er angefangen hat, in Norwegen Wohnwagen an Touristen zu vermieten. Viele von ihnen fahren mit Hurtigruten bis nach Tromsø oder Kirkenes und dann auf dem Landweg mit einem Camper zurück in den Süden oder umgekehrt.
laf Loe geht so oft er kann bei Hurtigruten an Bord. Seine Lieblingsreise ist die von Kirkenes bis nach Bergen mit Abfahrt Mitte April. «Dann verlässt man Kirkenes noch im tiefsten Winter mit Schnee, Eis und stürmischem Wetter und fährt, mit etwas Glück, in den Sommer. Im Süden kann es um diese Jahreszeit bereits 15 bis 18 Grad warm sein.»
Von Stefanie Schnelli