Ein Besuch bei Langustenfischern, Ziegenjägern, Bierbrauern und anderen Gestrandeten auf der Robinson-Crusoe-Insel im Südpazifik.
«Zuerst fliegen die Langusten!» Die Dame von der Propellerfluggesellschaft versucht ein Lächeln, ohne dabei ihren resoluten Tonfall aufzugeben. «Heute ist leider wieder kein Platz in der Maschine!» Teresa Maldonado ein gültiges Flugticket mit Abflugzeit um 8:30 Uhr vorzulegen, hilft nichts. Die Languste hat Priorität. Auch wenn seit Tagen Menschen auf ihre Rückreise warten. Das Viech muss lebend in Santiago ankommen. Niemand will frühzeitig verstorbene Krustentiere zum Champagner. Teresa versucht es mit Hoffnung. «Wenn morgen das Wetter mitspielt, klappt es bestimmt.» Kein Betteln und Jammern kann sie umstimmen. Auch nicht der Fakt, dass in ein paar Stunden der internationale Heimflug Santiago verlässt. Der Vertröstete fühlt sich ein wenig wie ein im Kochwasser verendender Hummer.
Teresa Maldonado hat Mitleid mit den Kunden ihrer Fluggesellschaft. Sie ist es gewohnt, dass sie Gestrandete auf den nächsten oder übernächsten Tag verweisen muss. Und tut das mit aufrichtiger Anteilnahme. Manch einem bietet sie sogar eine Übernachtungsmöglichkeit in ihrer Holzhütte oberhalb des Hafens an. «Wenn es nicht stört, dass gerade nicht aufgeräumt ist.»
Willkommen auf Robinson Crusoe, Insel der Gestrandeten. Auch heute noch kann hier niemand genau sagen, wann er die Insel wieder verlassen wird. Feste Flugpläne gibt es nicht, und wenn die Sitzplätze im Flugzeug mal nicht von Langusten blockiert werden, zieht vielleicht gerade eine Schlechtwetterfront über das Eiland. Aber was sind schon zwei, drei Tage im Vergleich zu den vier Jahren und vier Monaten, die Anfang des 18. Jahrhunderts der schottische Seemann Alexander Selkirk hier festsass? Das Schicksal des Vaters aller Gestrandeten inspirierte einst Daniel Defoe zu seinem weltberühmten Roman. Seit 1966 tragen die beiden Hauptinseln des Juan-Fernández-Archipels die Namen Robinsón Crusoe und Alejandro Selkirk. Die entlegene Inselgruppe im Südpazifik gehört seit 1818 zu Chile. Während Alejandro Selkirk nur zeitweise von Fischern bewohnt wird, leben auf Robinsón Crusoe heute etwa 800 Menschen hauptsächlich vom Langustenfang und von ein wenig Viehwirtschaft.
Wer sich geniert, Teresas privates Übernachtungsangebot anzunehmen, landet unweigerlich bei Ramón Baeza Rubilar. Der Inselwirt hat ein Herz für Gestrandete und irgendwann enden sie alle in seiner Familienherberge Hostal Petit-Breuilh. Der robuste Insulaner mit dem freundlichen, runden Gesicht kam einst als Polizist auf die Insel und umsorgt nun die wenigen Touristen mit feinen Fischgerichten und vorzüglich zubereiteter Languste.
Gegenüber dem Tresen der kleinen Inselbar liegt auf einer Holztruhe ein ausgestopfter Nasenbär, der die vier Pfoten von sich reckt. «Einst kam ein Festlandchilene auf die Insel und brachte die Nasenbären mit», erzählt Ramón, «er wollte die Tiere hier züchten. Ihr Fleisch schmeckt wie Wildschwein.» Doch bald schon war der Neuankömmling die Einsamkeit und das Nasenbärenfleisch satt. Er kehrte nach Santiago zurück und entliess die Bären in die Freiheit. Sie sind inzwischen zur Inselplage geworden und gefährden das Ökosystem.
Seit Alexander Selkirk hier hauste, hat sich die Insel stark verändert. Vom ursprünglichen Urwald, der einst weite Teile bedeckte, ist heute fast nur noch an den Nordhängen des Cerro El Yunque etwas übrig. Der Bergwald steht als Biosphärenreservat mit zahlreichen endemischen Arten unter dem Schutz der UNESCO. Sein Gebirge ragt wild gezackt und abenteuerlich steil fast tausend Meter aus dem Südpazifik.
Bereits der Namensgeber und Entdecker der Inselgruppe, Juan Fernández, wilderte 1564 die ersten fremden Tiere auf der Insel aus. Die Juan-Fernández-Ziegen sicherten später als Beutetier Alexander Selkirks Überleben. Für die sensible einheimische Tier- und Pflanzenwelt wurden sie aber schnell zur Bedrohung. Genauso wie die eingeführten Ratten, Kaninchen und Weidetiere, welche die grösstenteils endemischen Arten schnell verdrängten. Viele sind nun vom Aussterben bedroht. Ein grosser Teil der Insel ist heute von dürrem Grasland überzogen, auf dem Pferde und Kühe weiden und hunderte Kaninchen grasen. Erosion durch Entwaldung ist an vielen Orten zum Problem geworden.
Am Mirador Selkirk machen zwei Insulaner Pause. Vom Aussichtspunkt blickt man weit über dunkles Urwalddickicht auf den tiefblauen Pazifik. Selkirk soll hier einst täglich nach Schiffen Ausschau gehalten haben. Die bärtigen Männer sind mit zwei Pferden und zwei Hunden auf Ziegenjagd. An ihren Sätteln haben sie Gewehre und Lassos befestigt. Michael Perez und Manuel Kötzing trinken Dosenbier und sind bester Laune. «Mein Grossvater kam einst als deutscher Pirat auf die Insel», erzählt Kötzing. «Er verführte meine Grossmutter. Die war gerade einmal 14.»
Die Deutschen haben auf der Insel einen guten Ruf. Im März 1915 boten die Insulaner dem deutschen Kreuzer SMS Dresden in ihrer Bucht Unterschlupf, der als einziges deutsches Kriegsschiff der Seeschlacht bei den Falklandinseln entkam. Bereits wenige Tage später spürte es allerdings die britische Marine auf und beschoss es unter Verletzung der Neutralität Chiles. Hinter dem Inselfriedhof am Rand der Cumberlandbucht steckt noch immer eine Granate, die angeblich von den britischen Kreuzern stammt. Der Oberleutnant Wilhelm Canaris, der später als Widerstandskämpfer im KZ Flossenbürg hingerichtet wurde, sah sich gezwungen, das Schiff selbst zu versenken. Das Wrack in 60 Metern Tiefe ist heute chilenisches Nationaldenkmal.
«Die Dresden ist nach Alexander Selkirk das zweitwichtigste Ereignis in der Geschichte der Insel», sagt Guido Balbontin. Der 62-jährige Kunsthandwerker baute über Jahre die Bibliothek und das Inselmuseum auf und trug dort einige Ausstattungsgegenstände der Dresden zusammen. Am 27. Februar 2010 musste er aus dem Fenster seiner Holzhütte am Hang der Cumberlandbucht jedoch mit ansehen, wie ein Tsunami sein Dorf San Juan Bautista mitsamt seinem Museum hinwegschwemmte. 17 Menschen starben bei der Katastrophe. «Es war ein furchtbarer Anblick», erzählt Guido. Die Riesenwellen rissen alles mit sich. In den zurückgebliebenen Trümmern barg er nur einige wenige Erinnerungsstücke an die Dresden. Für die Erinnerungsplatte an drei gefallene Kadetten hat er danach eigens eine Grotte in den Fels hinter seiner Hütte gegraben, zu der ein mit altägyptischen Hieroglyphen verzierter Zugang führt. Im Kerzenschein ist dort zu lesen: In treuer Pflicht für das Deutsche Vaterland starben den Heldentod: Ing. Asp. Lerche, Ob. Math. Hunger, Hetzer Reuter, S.M.S. Dresden 14. März 1915.
Zum Gedenken an das Kriegsschiff hat Guido seine Inselband Dresden genannt. Text und Musik schreibt er selbst. In seinen teils fröhlichen, teils melancholisch-sentimentalen Liedern geht es um das Schicksal der Dresden, um den einsamen Alexander Selkirk und um habgierige Schatzsucher. «Das Gold der Insel ist die Languste, der El Yunque ihr Smaragd», heisst es in einer Hommage an die Insel.
Guido selbst ist ein Gestrandeter. Mit 19 kam er als Neugieriger vom Festland auf die Insel und blieb. «Nach 43 Jahren in kompletter Einsamkeit könnte ich nicht mehr woanders leben», sagt er. Seine vier Kinder sind alle auf der Insel geboren. Mittlerweile werden schwangere Frauen jedoch zur Geburt nach Santiago ausgeflogen.
Eine Hütte oberhalb von Guido Balbontin wohnt Claudio Matamala Morales. Der 39-Jährige kam vor 15 Jahren zum ersten Mal als Tourist nach Robinsón Crusoe und war so begeistert, dass er sich zwei Jahre später als Verwaltungsangestellter auf die Insel versetzen liess. Heute ist er besonders beschäftigt, denn in ein paar Tagen kommt eine Segelregatta aus Valparaiso auf der Insel an und Claudio ist auch der Bierbrauer der Insel. Vielleicht der einsamste der Welt. Aber sicher nicht der unglücklichste. Sein Cerveza Artesanal Archiépelago hat es bereits über die Insel hinaus zu Berühmtheit gebracht. Die Lagervariante mit Namen Robinson und sein Stout Ale Alejandro Selkirk haben anerkannte Preise gewonnen. «Es mag an der einzigartigen Reinheit und Beschaffenheit des Inselwassers liegen, dass das Bier so gut ankommt», sagt Claudio, der den nötigen Malz dazu aus Belgien importiert.
Demnächst soll eine neue Sorte mit Namen Dresden dazukommen. Allerspätestens 2014, wenn sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal jährt. «Es wäre wundervoll, mein Alejandro Selkirk in Schottland zu verkaufen und das Dresden in Deutschland.» Bisher verkauft er seine Flaschen vor allem an Restaurants und Bars in Santiago. «Ein Bier von der Robinson-Crusoe-Insel im Sortiment zu haben, ist für diese etwas ganz Besonderes. Ja, hätte der alte Selkirk bereits ein kühles Archipiélago zur Hand gehabt, die Einsamkeit wäre sicher erträglicher gewesen.» Claudio fühlt sich zu Hause auf der Insel. Auch er möchte heute nirgendwo anders mehr leben. «Die Einsamkeit stört mich nicht. Im Gegenteil, ich liebe das ruhige Leben hier», sagt er. Nur seine Frau konnte die Abgeschiedenheit auf Dauer nicht ertragen. Sie kehrte vor zehn Jahren auf das Festland zurück.
Teresa Maldonado hat am nächsten Tag knallroten Lippenstift aufgetragen und strahlt. Sie bietet den zwei ausreisewilligen Touristen eine Zigarette an und lehnt sich an die Wand der Holzhütte ihrer Fluggesellschaft. Beruhigend meint sie: «Keine Sorge, heute fliegt die Maschine. Und ohne Langusten.»
Dann erzählt sie von einem japanischen Pärchen, das vor Jahren nur zum Dinner eingeflogen war und dann wegen schlechten Wetters zwei Wochen festsass. Die Insulaner versorgten die Japaner mit Essen und Unterwäsche, weil sie nicht ausreichend Bargeld bei sich hatten. «Aber nein, so etwas kann heute nicht mehr passieren.»
Auf der Inselmole bringt Teresa die Passagiere persönlich zum Motorboot, das sie nach etwa einer Stunde Fahrt am Flugstreifen am anderen Ende der Insel abliefert. Am Hafeneingang wacht eine bärtige Petrus-Statue im gelb-roten Gewand mit einer Bibel unter dem Arm. Oder ist es etwa Robinson? Im Wasser um die Mole tummeln sich Juan-Fernández-Robben. Die putzigen Seelöwen jagen sich wie übermütige Kinder bei «Räuber und Polizist». Zwei Fischer ziehen ein buntes Boot an Land. Über der grünen Felswand des El Yunque ist auf einmal der Himmel aufgerissen und plötzlich scheint die Sonne. Ach, zwei, drei Tage hätte man hier auch noch länger stranden können, auf dieser Insel der Einsamkeit.
Text und Bilder von Winfried Schumacher