Nirgendwo sonst in Afrika leben so viele Primatenarten wie im Odzala-Nationalpark in der Republik Kongo. Mithilfe von Gorilla-Tracking soll das einmalige Naturparadies geschützt werden.
Was für ein niederes Wesen, der Mensch! Wie unbeholfen es durch den Dschungel kriecht und erbärmlich mit Schlingpflanzen und Ungeziefer kämpft. Neu gierig blickt Pan, der Gorillajunge, auf die fünf Männer herab, die soeben auf der Lichtung angekommen sind. Von einer Astgabel aus hat er beobachtet, wie sie sich eine Schneise durchs Dickicht geschlagen haben, die Köpfe von Schweissbienen umschwirrt, die Arme von Termitenbissen übersät. Sobald sie Pan im Geäst erblickt haben, richten sich ihre affenarmlangen Kameraobjektive auf ihn.
Seit einigen Monaten tauchen fast täglich kleine Touristengruppen im Urwald von Ndzehi auf. Die Menschenaffen scheint es schon gar nicht mehr zu stören. Die tollpatschigen Eindringlinge sind inzwischen Teil ihres Alltags. Kommen sie ihnen zu nahe, flüchten die Gorillas ins Unterholz. Zuvor stellt Pans Vater Neptuno, das dominante Silberrückenmännchen, aber mit furchteinflössendem Gebrüll seine breiten Schultermuskeln zur Schau. Kein Zweifel, wer hier Herr im Dschungel ist!
Gabin Okele wischt sich den Schweiss von der Stirn. Hinter seiner Atemschutzmaske lächelt der einheimische Gorilla-Tracker stolz. Den Mundschutz trägt er – wie auch die Touristen –, um zu verhindern, dass ansteckende Krankheiten in den Lebensraum der Gorillas eingeschleppt werden. Um die Tiere nicht unnötig zu stören, dürfen Besucher nie länger als eine Stunde in ihrer Nähe bleiben und müssen einen Mindestabstand von sieben Metern einhalten.
Okele hat es wieder einmal geschafft, Neptunos Grossfamilie auf die Schliche zu kommen. Anhand eigentlich unsichtbarer Hinweise wie niedergedrückter Blätter und abgebrochener Pflanzenstängel ist der zierliche Kongolese den Menschenaffen auf der Spur geblieben. «Ich habe früh gelernt, die Fährten der Tiere zu lesen», erzählt der 33-Jährige aus der Urwaldregion Kelle. Bis vor Kurzem machte er Jagd auf Pinselohrschweine. Seit Touristen in den Odzala-Nationalpark kommen, arbeitet er als Fährtenleser der Gorillas. «Man braucht scharfe Augen und sehr viel Erfahrung», erklärt er. «Mit Geduld finden wir sie aber immer.»
Im August öffnete die Ngaga-Lodge einige Kilometer ausserhalb des Nationalparks im Nordosten der Republik Kongo unweit der Grenze zu Gabun. Sie wurde hier aufgebaut, um Naturtouristen anzulocken, die den bedrohten Westlichen Flachlandgorilla in der Wildnis beobachten möchten. Die sechs palmgedeckten Gäste-Chalets im Stil von Pygmäenhütten und die weiträumige Lounge sind in den Urwald eingebettet. Zwischen den Chalets wuchern saftig grüne Marantaceaeblätter, die Leibspeise der Gorillas.
Für die Republik Kongo, das ehemalige Französisch-Kongo, ist die Öko-Lodge ein Novum. Im krisengeschüttelten Land spielte der Tourismus noch nie eine wichtige Rolle. Zwar hat es einige der artenreichsten Waldschutzgebiete der Erde. Auch ist es politisch stabiler und für Reisende viel weniger gefährlich als sein riesiger Nachbar auf der anderen Seite des Kongo-Stroms, die fast gleichnamige Demokratische Republik Kongo, ehemals Zaire und zu Kolonialzeiten Belgisch-Kongo. Dennoch besuchten bisher selbst hartgesottene Naturtouristen nur äusserst selten die Urwälder des Landes.
Das soll sich nun ändern, wenn es nach dem kongolesischen Artenschutz- und Tourismusministerium, der Umweltschutzorganisation Congo Conservation Company und dem südafrikanischen Safariunternehmen Wilderness geht. Gemeinsam liessen sie die beiden neuen Lodges im Odzala-Nationalpark aufbauen.
«Die Region hat alles zu bieten, was ein Paradies für Naturfreunde ausmacht», schwärmt Sandra Schönbächler, die Managerin von Congo Conservation. Die 32-jährige Schweizerin ist am späten Nachmittag mit ihren Gästen des Lango-Camps, der Schwester-Lodge von Ngaga, zur Safari aufgebrochen. Die Pirschfahrt führt durch sanft hügeliges Buschland. Aus der Feuchtsavanne ragen elefantenhohe Termitenhügel in den Tropenhimmel. Hin und wieder lugt dahinter ein Rotbüffel hervor und beglotzt missmutig das Menschengefährt, bevor er widerwillig das Weite sucht.
Der Odzala-Nationalpark ist einer der artenreichsten Afrikas. In seinen Urwäldern, Sumpfgebieten und Savannen kommen etwa 450 Vogelarten vor. Nirgendwo sonst in Afrika leben so viele Primatenarten. Die hübschen Mantelaffen mit ihrem schwarz-weissen Langhaarpelz sind dort genauso verbreitet wie die drolligen Weissnasenmeerkatzen und die geheimnisvollen Goldenen Bärenmakis. Keine Region in Zentralafrika hat eine dichtere Population an Westlichen Flachlandgorillas: schätzungsweise 125 000 leben im Nationalpark.
«Hier dreht sich alles um Biodiversität», sagt Schönbächler, «aber manchmal braucht man Geduld, um die Tiere zu sehen. Das ist hier eben nicht wie in Kenia oder Südafrika.» Mit der Dämmerung erwacht im Nationalpark das Leben. Am Waldrand halten Palmgeier Aussicht von hoher Warte. Rotbraune, weiss getupfte Buschböcke trauen sich langsam aus dem Unterholz. Irgendwo lärmt ein Riesenturako. Kurz vor Sonnenuntergang hat Schönbächler eine Elefantenfamilie erblickt, die im hohen Savannengras fast unentdeckt blieb. «Elfenbein-Wilderei wird auch im Nationalpark immer mehr zum Problem», sagt Schönbächler. Aufmerksam beobachtet sie, wie die Dickhäuter im Dickicht verschwinden. Das Odzala-Projekt sieht sie als einen Beitrag, den bedrohten zentral afrikanischen Regenwald zu erhalten. «Tourismus ist eine der wenigen Chancen, entlegene Regionen wie diese zu schützen.»
Der Ndzehi-Urwald, in dem nun wenige Kilometer ausserhalb des Nationalparks Touristen Gorillas beobachten, wurde vor Jahren von einem chinesischen Holzfällerunternehmen aufgekauft. Seit 2011 läuft für 25 Jahre der Vertrag, welcher der Congo Conservation Company die Rechte für das Gorilla-Tracking zuteilt. Wenn das Tourismusprojekt scheitert, könnte der Urwald wie anderswo auch der überall fortschreitenden Rodung zum Opfer fallen.
«Ich liebe Herausforderungen!», sagt Schönbächler, die zuvor neun Jahre in Madagaskar lebte und dort eine Öko-Lodge aufbaute. «Viele der Probleme kannte ich schon von dort», erzählt sie, «die Schwierigkeiten mit der Logistik, die extreme Bürokratie, das Warten auf Genehmigungen. Dann steckten unsere Lastwagen mit Baumaterialien und Möbeln in der Regenzeit auf den Urwaldpisten fest. Ich habe selbst mitgeschaufelt, um voranzukommen.» Einen Tag bevor im August 2012 die ersten Gäste ankamen, war alles fertig.
«Wir haben über 200 Einheimische eingestellt, um die Lodges aufzubauen», erzählt sie, «kaum einer hatte eine Ausbildung oder konnte Englisch.» Aus einzelnen Bauarbeitern wurden schliesslich Küchen- und Service-Mitarbeiter, insgesamt 25 arbeiten heute für die beiden Camps.
«Es ist besonders wichtig, möglichst viele Einheimische in das Projekt einzubinden», sagt Magda Bermejo. Seit 1994 erforscht die Primatologin von der Universität Barcelona die Gorillas im Odzala-Nationalpark. «Die Menschen hier haben eine emotionale Beziehung zu ihren Gorillas. Es ist ein gutes Nebeneinander und der Schutz der Tiere ist den Einheimischen wichtig. Das ist etwas Besonderes in Zentralafrika.» In anderen Regionen fallen die Gorillas vermehrt Wilderern zum Opfer und landen manchmal gar als Fleischproviant auf den örtlichen Märkten.
Als im nahe gelegenen Waldgebiet von Lossi vor zehn Jahren Ebola unter den Gorillas ausbrach, musste Bermejo mitansehen, wie 95 Prozent der Bestände der tödlichen Krankheit zum Opfer fielen. «Die Einheimischen sorgten sich um die Gorillas, obwohl sie selbst an der Seuche starben», erzählt Bermejo. Die Gorilla-Forscherin gab nicht auf und half, das Gorilla-Tracking für Touristen zu initiieren. «Wenn der Tourismus nicht zum Schutz der Menschenaffen beitragen würde, wäre ich am Projekt nicht interessiert», sagt sie.
Im Urwald von Ndzehi ist es Nacht geworden. Heerscharen von Fledermäusen und schwalbengrosse Nachtfalter schwirren durch das fahle Mondlicht. Irgendwo heult eine Hyäne. Pans Familie hat sich längst ein Blätternest gemacht und schlummert dicht zusammengekauert. Am frühen Morgen werden sich die Gorilla-Tracker auf die Suche nach der Schlafstätte machen. Und wenn er gut gelaunt ist, wird Pan wieder artig für Fotos posieren.
von Winfried Schumacher