Tief verborgen im Dschungel Guatemalas liegt die einst grösste Stadt Mesoamerikas. El Mirador, während zwei Jahrtausenden vom Urwald versteckt und 1926 wiederentdeckt, ist die Wiege der Maya-Kultur.
Wenn die Abendsonne einen letzten Tropfen Blut in den Himmel El Peténs wischt und goldener Dunst über den Dschungel wabert, kämpft der Grosse Jaguar mit dem Sonnengott. Dann dringt ein gespenstisch heiseres Grölen aus den Wipfeln, dem eine wilde Horde aufgebrachter Geisterstimmen antwortet.
«Brüllaffen», murmelt Juan Carlos, der Maultiertreiber. In der Dämmerung klingt ihr Rufen wie ein Chor von Dämonen. «Für die Maya symbolisierte der Sternenhimmel das gefleckte Fell des Jaguars. Jeden Abend kämpft er aufs Neue mit der Sonne», erzählt Juan Carlos Crasborn. Er steht einsam auf der von Bäumen und Schlingpflanzen überwucherten Pyramide von El Tintal. Zu seinen Füssen gieren in der schwülen Tropenhitze Abermillionen Blätter nach der Kühle des Abends. Nichts als Wildnis ringsum. Keine Strasse. Keine Wegschneise. Keine Rauchfahne. Noch nicht einmal der Kondensstreifen eines Flugzeugs kratzt ins Abendrot über dem grössten Urwaldgebiet Mittelamerikas.
Juan Carlos lässt den ausgestreckten Arm am Horizont entlangwandern. Sein Zeigefinger hält immer wieder an winzigen Kuppen inne, die aus dem Flachland ragen. Xulnal. Wakna. Nakbe. Juan Carlos spricht die Namen aus wie eine längst vergessene Zauberformel. Als die ersten Piloten in den 30er-Jahren über den Norden Guatemalas flogen, glaubten sie eine Reihe erloschener Vulkane entdeckt zu haben, die auf keiner Karte verzeichnet waren. Es sind aber weder Vulkane noch Berge, deren Namen Juan Carlos aneinanderreiht. Es sind die Gipfel mächtiger Mayapyramiden, die vor zweitausend Jahren die stolzen Zentren von geschäftigen Metropolen waren. «Würden wir zur Zeit Jesu hier stehen», sagt er, «dies hier wäre eine einzige Stadt. Pyramiden. Hochstrassen. Menschenmassen. Die grösste Metropole der Maya.»
Verschwunden im Urwald
Weit entfernt am Horizont ragt ein Hügel besonders weit aus der Dschungelebene: La Danta. Mit 72 Metern die höchste aller Pyramiden Mesoamerikas, höher als die Sonnenpyramide von Teotihuacán in Mexiko und massiver als die Cheops-Pyramide von Gizeh in Ägypten. Sie war einst das Zentrum der Maya-Welt. Sie ist das Ziel unserer Expedition.
Nach zwei schweisstreibenden Tagesmärschen auf sumpfigen Urwaldpfaden wollen wir dort oben stehen, auf der Spitze einer verlorenen Hochkultur. Zwei dünnbeinige Maultiere schleppen unseren Proviant. Warum El Mirador, wie die verlorene Maya-Stadt später genannt wurde, um 150 nach Christus scheinbar urplötzlich verlassen wurde, ist bis heute nicht restlos geklärt. So mysteriös wie die Stadt einst aus dem Dschungel gestampft wurde, verschwand sie für fast zwei Jahrtausende wieder von der Landkarte. Der Urwald eroberte den Moloch zurück und Schlingpflanzen überwucherten ihre grössenwahnsinnigen Bauten. Die Ruinen der Pyramiden wurden zum Revier des Jaguars. 1926 wurde die Maya-Stadt wiederentdeckt, erst Jahrzehnte später von Archäologen kartiert.
«In El Mirador entstand die erste staatenähnliche Gesellschaft der westlichen Hemisphäre», sagt Richard Hansen, «die Hauptstadt der Präklassik.» Der amerikanische Archäologe lehrt an den Universitäten von Idaho und Utah. Er kam 1979 mit 26 Jahren als Student nach El Mirador. Anhand von Tonscherben entdeckte er, dass die Metropole etwa 1000 Jahre älter sein musste als die bekannten Monumentalbauten der Klassik. «Wir fanden hier nicht weniger als die Wiege der Maya-Kultur», schwärmt er.
In Guatemala erhielt Hansen den Spitznamen «Indiana Jones», nachdem er den Absturz seines Propellerflugzeugs nahe von El Mirador überlebte. Er war mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter aus dem Wrack geflüchtet, bevor es in einem Feuerball aufging. Das Team des Archäologen kartierte in der Mirador-Ebene mehr als 80 Städte und Siedlungen, die mit der Hauptstadt teils durch imposante Hochstrassen verbunden waren. «Allein El Mirador muss zu Blütezeiten um die 200 000 Einwohner gehabt haben», sagt Hansen, «die gesamte Region wahrscheinlich mehr als eine Million.»
Ökotouristen anstatt Plünderer
Bei Sonnenaufgang brechen wir vom Fuss der Pyramide von El Tintal zu unserer zweiten Etappe nach El Mirador auf. Eines der Maultiere schwächelt. Ein Zeckenstich am Hals hat sich zu einer blutigen Wunde entwickelt. Juan Carlos klopft dem erschöpften Tier aufmunternd auf die Flanke. Wir stapfen durch feuchtes Sumpfland, vorbei an trüben Tümpeln über denen kobaltblaue Schmetterlinge flattern. Eine Horde von Klammeraffen erbost sich lautstark über die Eindringlinge in ihr Revier und schüttelt zornig die Äste, sodass es Totholz auf den Waldboden regnet. Die Maultiere treten in frische Jaguarspuren. Noch heute ist El Mirador nur auf schmalen Dschungelpfaden oder mit dem Hubschrauber zu erreichen. Eine touristische Infrastruktur gibt es nicht. Es bleibt lediglich die Möglichkeit, im Camp der Archäologen zu zelten. Die Zahl der Abenteurer, die sich von dem nächsten Dorf Carmelita durch den Urwald auf den anstrengenden zweitägigen Fussmarsch machen, lag 2013 bei etwa 3000 – verschwindend wenige im Vergleich zu den mehreren Hunderttausenden, die jedes Jahr nach Tikal, Guatemalas bekanntester Maya-Stadt, pilgern.
Am späten Nachmittag erreichen wir die Ruinenstätte von La Muerta. Urplötzlich gibt der Urwald den Blick auf zwei haushohe Steinpyramiden frei. Die Maultiere scheuen. «Aus irgendeinem Grund haben sie Angst, den Pyramiden zu nahe zu kommen.» Juan-Carlos klettert in einen schmalen, von Archäologen freigelegten Schacht. In einer Grabkammer wimmelt es von winzigen Fledermäusen. «Keine Angst, diese hier sind Fruchtfresser», flüstert er.
Seit die Archäologen die ersten Bauten freilegten, folgten ihnen Grabräuber bis ins Zentrum der Mirador-Ebene. Sie schlugen Schneisen in die Pyramiden, plünderten unzählige Grabkammern, noch ehe die Wissenschaftler sie ausfindig machen konnten. «Es ist eine Tragödie», sagt Hansen, «wo ich keine Wachen stationieren kann, wird alles ausgeraubt.» Noch mehr machen ihm Holzfäller zu schaffen. «Wenn die Brandrodung so weitergeht», sagt er, «ist der Wald in zehn Jahren verloren.»
Der Archäologe kämpft wie ein Jaguar für die Rettung der Mirador-Ebene. Für seine Schlacht gegen Plünderer, Wilderer und die Holzindustrie erhielt er Todesdrohungen. Sie konnten ihn nicht davor abschrecken, weiter im Urwald nach den Ursprüngen von El Mirador zu forschen. «Wir müssen der Bevölkerung klarmachen, dass dieses Gebiet zu wertvoll ist für den Kahlschlag. Das ist, als würde man den Eiffelturm zur Metallverarbeitung abreissen.»
Hansen träumt von einem Park für Ökotourismus, der nur mit einem Schmalspurzug zu erreichen ist. «Eine Strasse würde nur den Weg für die Holzfäller ebnen», sagt er. «Wir müssen den Erhalt von El Mirador wirtschaftlich rechtfertigen. Die Regierung muss begreifen, dass sie mit dem Tourismus längerfristig mehr Geld machen kann als mit Holz und Raubkunst. Tikal macht jedes Jahr mehr als 160 Millionen Euro mit den Touristen. Ich bin überzeugt, El Mirador könnte das noch toppen.»
Durch Fundraising hat Hansen Millionen für den Erhalt El Miradors zusammengetragen. Hollywoodstars und andere Superreiche spendeten für ihn. Zu seinen Unterstützern zählt auch Mel Gibson, den er für sein Maya-Epos «Apocalypto» beriet.
Zerstörerische Verschwendung
Am Abend stehen wir auf der Spitze von La Danta, zu unseren Füssen nichts als Dschungel bis zum Horizont. Kaum vorstellbar, welche Aussicht sich einst Priestern und Königen bot, die vor zweitausend Jahren genau hier standen. Vor dem inneren Auge entfaltet sich noch einmal die alte Pracht El Miradors: Dutzende dunkel-roter Pyramiden wuchern aus dem Urwald. Von wackeligen Holzgerüsten schleifen Künstler meterhohe Masken aus den bombastischen Kalksteinfassaden. Auf einem Marktplatz laden Händler ihre Waren ab: Grün schillernde Jade, perlmuttfarben glänzende Muschelschalen vom Karibischen Meer und prächtige Ozelotfelle aus den Wäldern von Calakmul. Auf weissgekalkten Hochstrassen schleppen Karawanen von Arbeitern Felsbrocken mit schierer Mannskraft. Lasttiere und selbst das Rad waren den Maya unbekannt.
Das Krächzen eines Tukans reisst uns zurück in die Gegenwart. Den letzten Kampf zwischen Mensch und Natur gewann der Urwald. Er begrub selbst die gewaltigsten Zeugnisse von Habgier und Masslosigkeit unter den mächtigen Wurzeln seiner Sapotilla- und Brotnussbäume. «Die Bewohner El Miradors legten die Sümpfe trocken, trugen den Lehm ab und fällten den Wald für ihre Terrassenfelder und ihre immer aufwendigeren Bauten», sagt Hansen. Irgendwann hatten sie ihre eigene Lebensgrundlage zerstört. Die Konsequenz waren wohl Hungersnöte und Kriege, welche die Maya zwangen, die einst machtvollste ihrer Städte aufzugeben. «Ihre übermässige Verschwendungssucht war der Grund für ihren Niedergang», sagt Hansen. «Wir tun heute nichts anderes. Und wir werden einen schrecklichen Preis dafür bezahlen.»
In der Nacht vor unserer Rückkehr machen wir uns noch einmal auf den Weg nach La Danta. Im Licht von Juan Carlos’ Taschenlampe reflektieren die Augen von handtellergrossen Spinnen. Leuchtkäfer irrlichtern geisterhaft durch das Unterholz. Dann stehen wir vor der Pyramide, ein Berg aus gehauenem Stein unter Millionen von Sternen. Wir steigen mühsam Stufe um Stufe hinauf bis auf die oberste Plattform. Atemlose Stille. Als der Grosse Wagen im Morgengrauen versinkt, stimmt ein winziger Vogel ein monotones Lied an. Irgendwo beginnt eine Horde Brüllaffen ihren Dämonengesang. Am Horizont siegt erneut der Sonnengott. Mit einem silbernen Lichtstreifen löscht er die Flecken des Jaguars vom Firmament.
Text und Bilder von Winfried Schumacher