Rajasthan besticht nicht nur durch Maharadscha-Paläste. Auch die eleganten Wohngebäude wohlhabender Geschäftsleute, die Havelis aus dem 18. und 19. Jahrhundert, sind beeindruckend.
Rajasthan – wörtlich übersetzt Land der Könige – gehört zu den touristisch meistbesuchten Gliedstaaten Indiens. Mit seinen opulenten Palästen und kühnen Festungen, mit seinen stolzen Menschen und seinen majestätischen Elefanten und Tigern verkörpert es viel von dem, was das Abendland seit eh und je mit dem Orient in Verbindung bringt. Wäre der Begriff nicht so stark abgegriffen und herrschte nicht auch in Rajasthan eine grosse Kluft zwischen Arm und Reich – man möchte von einer Märchenwelt wie in 1001 Nacht sprechen.
Teil dieser Szenerie sind auch die Havelis, prächtige und farbenfroh verzierte mehrstöckige Wohnhäuser vorwiegend aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Gebaut wurden sie von erfolgreichen Händlern meist muslimischen Glaubens, welche entlang der damals hier vorbeiführenden Seidenstrasse ihren Geschäften nachgingen; so lange, bis der aufkommende Dampfschiff-Verkehr die Kamelkarawanen ablöste und die Händler zum Wegzug zwang.
Wenn heute viele dieser palastartigen Gebäude dem Verfall preisgegeben werden, erinnern sie dennoch an eine Zeit, in der sich das soziale Leben – besonders für Frauen – hinter dicken Mauern abspielte. Schliesslich bedeutet Haveli, ein Begriff aus dem Arabischen, so viel wie umbauter Platz. «Hinter diesen Mauern führte die Mutter des Hausherrn das Zepter, und zwar mit eiserner Hand», lässt die indische Schriftstellerin Rama Metha in ihrem 1977 erschienenen Roman Inside the Haveli die Hauptfigur Geeta erzählen: eine moderne und ausgebildete junge Frau aus Bombay, welche durch Heirat in eine traditionelle Grossfamilie in Rajasthan gelangt und dort, oftmals verschleiert, den grössten Teil ihres Lebens im Haveli verbringt. Der Druck auf Geeta, sich anzupassen und unterzuordnen, ist gewaltig; der Anpassungsprozess aber ein langer. Obschon praktisch nur Verwandte im Innern des Haveli auftauchten, war Geeta auch nach zwei Jahren noch nicht klar, wie genau diese Menschen mit ihrem Mann verwandt waren, liest man.
Hindu-Götter und die Eisenbahn
Das Haus, welches Geeta anfänglich als ein goldener Käfig erschien, steht im vornehmen Udaipur. Diese für indische Verhältnisse auffallend saubere Stadt zählt zusammen mit Jaipur und Jodhpur zu den touristischen Ikonen Rajasthans. Der im Roman beschriebene Haveli könnte aber auch im Gebiet von Shekhawati liegen, inmitten des Dreiecks Delhi-Bikaner-Jaipur. Denn dieses ist berühmt für seine Haveli-Dörfer und gilt als wahre Freiluft-Galerie. Die meisten Bauten stammen hier aus der Zeit von 1860 bis 1910, als die Farben Rot und Blau in den Fresken und Wandmalereien dominierten. Die abwechslungsreichen Werke einheimischer Töpfer und zugereister Artisten stellen nicht nur lokale Kriegsszenen dar. Oft sind sie auch inspiriert von der bunt-bewegten Welt der Hindu-Götter, allen voran Shiva, Vishnu und Brahma, sowie deren jeweiligen Reinkarnationen. Dem Einfluss der Karawanen ist es zu verdanken, dass auch Szenen aus entfernten Regionen, wie China oder Europa, Eingang in die Fresken von Shekhawati fanden; mitunter stösst man sogar auf eine Abbildung einer Eisenbahn. Und wenn immer ein Mann auf einem Bild einen Hut trage, so wird uns versichert, handle es sich um einen britischen Kolonialherrn.
Natülich haben sich auch in Shekhawati die meisten Besitzerfamilien längstens nach Mumbai, Delhi oder Kolkata verabschiedet und ihre Havelis dem Schicksal überlassen, beziehungsweise Wächtern und deren Angehörigen. Immerhin: Dank dem Tourismus zeichnet sich eine Gegenbewegung ab. Diverse Gebäude, deren Unterhalt und Instandhaltung sehr ins Tuch geht, wurden zu Hotels umgebaut oder lassen sich gegen Eintrittsgeld besuchen.
Lebendiges Museum
Dabei lohnt es sich, Havelis in denjenigen Orten zu besuchen, die auch vernünftige Hotels anbieten, wie etwa Nawalgarh, Dundlod, Mahansar, Fatehpur, Baggar und Jhunjhunu. Auch das 40 000 Einwohner zählende Mandawa im Herzen von Shekhawati lässt sich empfehlen. Das dortige Hotel Castle Mandawa etwa ist nicht nur ein lebendiges Museum, sondern auch ein perfekter Ausgangspunkt, um in die Welt der Havelis einzutauchen und in die benachbarten Ortschaften auszuschwärmen. Kehrt man von den Ausflügen in die aride Umgebung zurück, fühlt man sich in dieser Festung aus dem Jahre 1756 wie in einer Oase der Gastfreundschaft. Der verwinkelte Bau inmitten der Stadt ist im lokalen Baustil errichtet, eine Mischung aus Hindu- und Muslim-Architektur, welche vor Hitze und vor Angreifern schützt.
Die am Eingangstor wachenden Sikhs mit leuchtend orangem oder gelbem Turban und rabenschwarzem Schnurrbart verleihen mit ihren theatralisch-freundlichen Gesten dem Gast stets das Gefühl, willkommen zu sein. Und auch der Ort selber mag in seiner abgewirtschafteten Art zu gefallen: mit seinen Handwerker-Ateliers und kleinen Läden, in denen geschneidert, geschmiedet, gewoben, gehandelt und auch diskutiert wird, während heilige Kühe auf der ständigen Suche nach etwas Fressbarem durch die engen Strassenzüge wandeln. Wer nach Sonnenuntergang einen Rundgang durch Mandawa unternimmt, wird sich vielleicht sogar in die Zeit der Seidenstrasse zurückversetzt fühlen. Ein aus allen Ecken und Enden kommendes, flackerndes Licht von Kerzen und Petroleum-Pfunzeln verleiht dem Ort dann nämlich eine fast magische Ambiance. Und Dunkelheit kaschiert eine bei Tageslicht nicht zu übersehende Ärmlichkeit und einen scheinbar unaufhaltsamen Zerfall.
von Fred Bartu