Die Vanille La Réunions geniesst Weltruhm. Weniger bekannt ist das Weinbaugebiet der Insel. Eines der kuriosesten der Welt, verborgen hinter dreitausend Meter hohen Felswänden.
Von wegen Vollblutinsulaner. Der kleine Mann mit dem Metzgermesser erinnert eher an den Provinzgallier eines Asterix-Dorfes als an den Ureinwohner einer Tropeninsel. In seinem Weinkeller unter einem kreolischen Häuschen schnippelt Pierre Dijoux an einer Schinkenkeule und reicht dazu den süssesten Wein südlich des Äquators. Mit seiner gedrungenen Gestalt, den eisblauen Augen und seinem bodenständigen Charme würde man den Winzer in die Bretagne stecken oder in die Normandie – nicht aber auf eine Insel im Indischen Ozean, knapp 700 Kilometer östlich von Madagaskar.
Nach dem dritten Gläschen Wein sieht die Welt schon anders aus. Die Insulaner hatten uns gewarnt. Der Wein, den sie da oben in den Bergen trinken, macht verrückt, hatten sie gesagt. Tatsache. Sassen wir nicht eben noch am Strand einer Tropeninsel, schwebten im Wasser, umgeben von neonfarbenen Korallenfischen? Waren da nicht die Kokospalmen und dahinter das dunkle Türkis des Indischen Ozeans? Nun, urplötzlich, wie es scheint, finden wir uns im Hochgebirge wieder, gefühlte 3000 Meter über dem Meer. Ringsum gewaltige Felsmassive, deren schroffe Spitzen in den Wolken verschwinden. Mehr als 400 Kurven führen vom Ozean bis hoch zum Krater von Cilaos. Wer die Serpentinenstrasse überstanden hat, dem hämmert bei seiner Ankunft dermassen der Kopf, als habe er die Weinprobe bereits hinter sich.
Wein, der verrückt macht
Die wahren Ureinwohner von La Réunion stammen wie Dijoux tatsächlich von französischen Siedlern ab, die sich im 17. Jahrhundert hier niederliessen. Bis dahin war die Vulkaninsel unbewohnt. Seit 1638 gehört La Réunion zu Frankreich und hat den Status eines Überseedepartements. Heute mischt sich in den Gesichtern der Bewohner das Erbe der französischen Siedler, ostafrikanischer Sklaven, indischer und chinesischer Händler sowie tamilischer Einwanderer.
Emsig räumt Monsieur Dijoux eine Flasche nach der anderen auf den Holztisch und hat im Handumdrehen erneut die Gläser gefüllt. In gemütlichem Plauderton erzählt er von alten Zeiten, als die Insel noch auf mancher Weltkarte fehlte. Seine Vorfahren kamen 1700 aus Savoyen auf das entlegene Vulkaneiland. Sie waren die ersten Grundbesitzer im Bergkessel von Cilaos, dessen wilde Felslandschaft sie an ihre Heimat erinnerte. Nur der Wein, der hier degustiert wird, hat wahren Exotenstatus, «ein echter Kreole», sagt Monsieur Dijoux.
Cilaos birgt eines der entlegensten Weinbaugebiete der Welt. In einem gigantischen Felskrater, hinter hohen Bergketten hegen die Insulaner eine ganz besondere Rebsorte: Isabelle – eine Traube, die (so heisst es) allen Krankheiten und Pilzen trotzt. Gekeltert wird oft mit einfachsten Mitteln. Er selbst, erzählt Dijoux, habe schon mit zehn Jahren eigenen Wein abgefüllt, «in eine Perrier-Flasche, und weil ich keinen Korken hatte, stopfte ich die Flasche mit einem Maiskolben zu».
Diese mitunter ungewöhnliche Form der Darreichung wäre 1975 für Frankreich wohl noch kein hinreichender Grund gewesen, den Export ins Mutterland unter Strafe zu stellen. Auch nicht die Tatsache, dass das Gebräu sogar gestandene Männer nach wenigen Schlucken taumeln lässt. Vielmehr hat das Verbot mit einer Nebenwirkung zu tun, die dem Wein den Beinamen «Wein, der verrückt macht» eingebracht hat – enthält er doch ungewöhnlich viel Methanol, der das zentrale Nervensystem schädigen kann.
Die Bewohner des Bergkessels halten trotzdem an ihrer althergebrachten Rebsorte fest. Etwa 150 nebenberufliche Weinproduzenten gibt es in Cilaos. Was sie nicht selbst trinken, verscherbeln sie an neugierige Touristen, formlos am Strassenrand oder beim alljährlichen Weinfest. Die Cilaosiens, sagen ihre Nachbarn unten am Meer, sind geschäftstüchtig und fleissig und wenn sie feiern, dann mit Hingabe. Oft bleibt es allerdings nicht bei der kollektiven Fröhlichkeit. Manches Weingelage endet mit einer Schlägerei. Wahrscheinlich sagen sie auch deshalb jenseits der Bergwand: Die spinnen, die Cilaosiens.
Kleinfrankreich über den Wolken
Wie drei Kleeblätter verteilen sich die Bergkessel Cilaos, Mafate und Salazie um den höchsten Gipfel der Insel, den 3070 Meter hohen Piton des Neiges. Alle drei waren ursprünglich Teil eines Vulkanmassivs, das nach Ende seiner Aktivität in sich zusammensackte. Heute sind die Krater mit Dörfern und zwei kleinen Städten besiedelt. Und jeder von ihnen bildet eine eigene, vom Meer abgeschiedene Welt.
Mafate muss in grauer Vorzeit ein Spielplatz von Riesen gewesen sein. Chaotisch muten die Felsformationen und tiefen Schluchten an, die sich über die Landschaft verteilen. Der Krater ist bis heute nur über steile Bergpfade oder mit dem Hubschrauber zu erreichen.
Salazie ist das Land der Wasserfälle und Bergwälder. Wenn die Wolken, die sich an den Osthängen stauen, am Kraterrand aufreissen, weichen sie den Dschungel in kürzester Zeit zum Sumpf auf.
Mit seinen Temperaturen, die dem Mittelmeerklima ähneln, bot Cilaos den ersten Siedlern das geeignete Ambiente, um ihre Fantasie eines Kleinfrankreichs über den Wolken zu nähren. Bretonische Familien flohen vor der tropischen Hitze in der Ebene hierher, normannische Bauern entdeckten die Vulkanböden für den Gemüseanbau und elsässische Priester unterhielten später eine Schule nach heimischem Vorbild, die zum Internat der Inselelite avancierte. Auch der Wein gedieh in Cilaos besser als an der Küste.
Manchmal fällt es hier oben schwer, sich vorzustellen, dass man sich auf geografischer Augenhöhe mit Rio de Janeiro und den Cook-Inseln befindet. Und wenn auf dem Piton des Neiges mal wieder Schnee liegt, wirkt das Bild endgültig wie aus französischen Landstrichen zusammengeschnipselt. Die Cilaosiens tragen ihren Teil zur Verwirrung bei, indem sie beharrlich gallische Gediegenheit pflegen. In seinem Gärtchen pflanzt der Kesselbewohner Linsen, Zwiebeln und Kapuzinerkresse neben Bananenstauden, Weihnachtssternen und Engelstrompeten. In einem kleinen Betrieb mit Museum treffen sich Kunsthandwerkerinnen, sticken Spitzendecken und Taufkleidchen nach bretonischem Vorbild und klagen über ihre Töchter, die dieser zeitaufwendigen Kunst kein Interesse mehr entgegenbringen. Für kalte Winternächte haben die Cilaosiens sogar ein Thermalbad gebaut. Cilaos entwickelt sich mehr und mehr zum Touristenmagnet, der seine Abgeschiedenheit samt Eigenarten zu vermarkten weiss. Und die verrückte Isabelle spielt dabei keine unwesentliche Rolle.
Doch die wilde Rebe, die früher über windschiefen Lauben hinter den Hütten wuchs, bekommt Konkurrenz. Seit einigen Jahren experimentieren die Winzer von Cilaos mit anderen Rebsorten, die den Tropen gewachsen scheinen. Nun stehen Isabelles Rivalen längst als Pinot Noir, Chenin oder Malbec in geraden Reihen Spalier. Doch selbst bei optimaler Entwicklung werden die edlen Neuankömmlinge den verrückten Wein nicht aus dem Kessel drängen können. Zu verbunden sind die Bewohner ihrem traditionellen Tropfen. Wer einmal in Cilaos Wurzeln schlägt, heisst es, will nie mehr zurück ans Meer. Dieser Volksglaube ist dem Ort eingeschrieben. Der Name Cilaos stammt aus dem Malegassischen und bedeutet so viel wie: «Der Ort, den man nicht verlässt.»
von Winfried Schumacher