Vietnam reitet auf einer Erfolgswelle: Der Wirtschaftsmotor läuft rund, die Tourismuszahlen steigen kontinuierlich. Chaotisch und entzückend gleichermassen präsentiert sich die Hauptstadt Hanoi.
Die meisten Fahrräder und Rikschas sind in der vietnamesischen Hauptstadt von Motorrädern verdrängt worden. Autos – manchmal auch teure Karossen – fährt vor allem die Oberschicht. Nur noch ein paar Touristen, vor allem aus China, lassen sich von zerbrechlich wirkenden Vietnamesen durch die Stadt pedalen. Diese augenfällige Veränderung steht symbolisch für die wirtschaftliche Entwicklung im immer beliebter werdenden südostasiatischen Tourismusland: Noch während und nach dem Vietnamkrieg musste die Republik Lebensmittel importieren. Heute gehört sie mit jährlich gegen sieben Millionen Tonnen zu den wichtigsten ReisExporteuren. Das monatliche Einkommen eines Bankangestellten ist in der jungen Nation (Durchschnittsalter 26 Jahre) von 130 Dollar (1990) auf gegen 900 Dollar gestiegen, wobei ein Fabrikarbeiter nach wie vor einen Bruchteil davon verdient. Die Armut hat sich im gleichen Zeitraum von 58 Prozent auf 13 Prozent der 90 Millionen Einwohner verringert. Heute bereisen jährlich über sieben Millionen Touristen das Land am Mekong – Tendenz stark steigend.
Streetfood zelebrieren
Was selbst viele Asienfans nicht wissen: Hanoi gehört zu den interessantesten Metropolen im Fernen Osten. Das bestätigt Jasmin Helbling (30), die seit Juni 2012 in der vietnamesischen Hauptstadt lebt und für die lokale Reiseagentur «All Asia Exclusive» arbeitet: «Hanoi ist wahrscheinlich die exotischste und chaotischste Hauptstadt Asiens, aber gleichzeitig auch die spannendste und entzückendste.»
Chaotisch, weil sich die Vietnamesen dank dem Wirtschaftswachstum Kleinwagen leisten können (was für verstopfte Strassen sorgt), weil das Stromkabelwirrwarr teilweise gefährlich tief hängt und weil viele Taxifahrer kleine Ganoven sind. Helbling rät, nur in Taxis der Firma Mai Linh (froschgrüne Farbe) oder Hanoi Taxi Group (weiss) zu steigen.
«Entzückend», wie sich die in Gossau SG aufgewachsene Schweizerin ausdrückt, zeigt sich Hanois Altstadt mit ihren Märkten, Läden, Cafés, Bars und Restaurants. Im Hoan Kiem District wird «Streetfood» geradezu zelebriert. «Streetfood ist das Beste in Hanoi. Dabei zeigen sich die Vietnamesen offener als etwa die Chinesen. Wir gehen gemeinsam essen, ins Kino oder einen Kaffee trinken», sagt Helbling. Man sitzt auf kleinen Plastikstühlen zwischen Einheimischen und isst lokale Gerichte wie eine Reisnudelsuppe mit Fisch, Dill und Chili für umgerechnet knapp zwei Franken. Wer wissen will, wie die Einheimischen ihre Freizeit gestalten, geht am Samstagabend zur Ecke Ta Hien Street/Luong Ngoc Quyen. Sie hat den Übernamen «Bia hoi Street», weil sich hier die Hanoier ein frisch gezapftes Bier für rund 6000 vietnamesische Dong oder 26 Rappen leisten. Die Altstadt hat sich ihre Authentizität bewahrt. Von den alten, gelb angestrichenen Häusern bröckelt der Verputz. Was ebenfalls typisch für die Stadt ist: Bereits um 23.30 Uhr schliessen die Lokale; Hanoi legt sich – im Gegensatz etwa zu Saigon – relativ früh schlafen.
Der Sonntagmorgen lädt ein zu einer Velofahrt rund um den Westsee. Mitten in der Stadt gelegen, ist er für die Einheimischen ein Naherholungsgebiet – bereits ab 5.30 Uhr für Morgengymnastik, später zum Spazieren oder für ein Treffen. Den angrenzenden TrucBachSee kennt USSenator John McCain bestens: Er landete hier 1967 während des Vietnamkriegs mit seinem Fallschirm, nachdem er als Pilot abgeschossen wurde. Danach wurde er ins berühmtberüchtigte HoaLòGefängnis gebracht, das amerikanische Kriegsgefangene ironisch als Hanoi Hilton bezeichneten. Heute ist es ein öffentliches Museum, nur ein Strassenzug südlich des Hoan Kiem Districts gelegen.
Was man als Besucher ebenfalls gesehen haben muss, ist das HoChiMinhMausoleum. Um den Revolutionär und Politiker wird ein ähnlicher Personenkult betrieben wie um Mao in China. Jasmin Helbling weiss: «Seine Leiche wurde mumifiziert. Der Eintritt ins Mausoleum ist gratis. Dazu muss man eine halbe Stunde anstehen, darf nicht lachen, die Hände nicht in die Hosentasche stecken und keine Fotos machen.» Danach rät Helbling, den Literaturtempel zu besuchen – seit 1076 die erste Akademie des Landes. Heute wird die konfuzianische Anlage neben Touristen auch von vietnamesischen Studentinnen in ihren traditionellen Kleidern besucht – ein beliebtes Fotosujet.
Schneiderstadt und Weltkulturerbe
Nur in den besten Tüchern zeigen sich auch die zahlreichen Hochzeitspaare, die sich im Französischen Viertel östlich von Hoan Kiem rund um das luxuriöse Sofitel Metropole fotografieren lassen. Viele der Stoffe werden in der zentralvietnamesischen Schneiderstadt Hoi An verarbeitet, wo mehr als 200 Schneider und Schuster ihrem Handwerk nachgehen. Dank über 1000 historischen Häusern, 43 Tempeln und 19 Pagoden gehört Hoi An zum UnescoWeltkultur erbe.
Das mit Abstand beste Hotel in der Region mit einem entsprechend exklusiven Frühstücksbuffet heisst The Nam Hai und gehört wie das Chedi in Andermatt zu den GHMHotels. Es befindet sich an einem unendlich langen, fast menschenleeren Strand und transportiert seine Gäste mit einem Minibus viermal täglich kostenlos nach Hoi An. Bis im Juni 2014 arbeitete hier der Berner Walter Hess (44) als Resident Manager (inzwischen ist er nach Bali weitergezogen), sein Landsmann, der Bündner Dominik Tschurr (30), ist nach wie vor Food & Beverage Manager. Er wohnt etwas ausserhalb der Altstadt von Hoi An und fährt mit seinem Moped in gut zehn Minuten zum Luxushotel, das einen eigenen Kräuter und Obstgarten mit Pfefferminz, Basilikum, Koriander, Zitronenmelisse, Mango und Babybananen betreibt.
Die Zahl der Touristen in Hoi An hat seit den internationalen Direktflügen nach Da Nang, der grössten Stadt Zentralvietnams, fast schon dramatisch zugenommen – binnen drei Jahren von 1 auf 2,3 Millionen. Der baumlange USAmerikaner Nathan ist vor acht Jahren zum ersten Mal nach Hoi An gekommen, als er eine Architekturreise absolvierte. Er blieb hängen, verliebte sich in Ly, heiratete sie und führt seither gemeinsam mit ihr das stadtbekannte Restaurant Miss Ly Cafeteria. Ob er den ruhigen, alten Zeiten nicht nachtrauere? «Ich sehe, wie gut es den Vietnamesen heute geht. Damals träumten sie von einem Moped und einem Mobiltelefon. Kürzlich fuhr ein Vietnamese in einem RollsRoyce vorbei», sagt Nathan und lacht. Wer durch die historischen Gassen und den Markt schlendert und beim Eindunkeln die leuchtenden Laternen bewundert, erkennt: Von seinem Charme hat Hoi An fast nichts eingebüsst.
von Reto E. Wild