Aufwendig gebaute Gruften, unzählige Verbote und teure Feste mit den Toten: Der Ahnenkult auf Madagaskar verhindert die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.
Gleich wird Mirana ihren Vater treffen. Sie wird ihn in die Arme schliessen und ihm Neuigkeiten aus ihrem Leben erzählen. Vom Job, der neuen Wohnung und von der Hochzeit, bei der er nicht anwesend sein konnte. Ihr Vater wird nicht antworten. Er ist seit über drei Jahren tot.
Trommelschläge hallen über den Hügel. Trompeten und Flöten erklingen. Vor der gemauerten Gruft aus Granitstein herrscht erwartungsvolles Gedränge. Gesprächsfetzen und Gelächter vermischen sich mit der Musik. Die Ersten beginnen zu tanzen, einige schwenken die madagassische Nationalflagge, andere recken gerollte Bastmatten in den Himmel. Kinder tollen schreiend über die Wiese, Frauen tuscheln kichernd, die Männer stossen mit Bier und Toaka Gasy an, einem selbst gebrannten Schnaps aus Zuckerrohr und Reis. Mirana sitzt etwas abseits im kümmerlichen Schatten eines vertrockneten Eukalyptusbaums. Unablässig zwirbelt sie eine Haarsträhne zwischen den Fingern.
Ein alter Mann steht auf der vier mal vier Meter grossen Gruft. Als die Band die Nationalhymne anstimmt, nimmt er seinen Hut ab und senkt das Haupt. Kaum ist der letzte Ton verklungen, tritt er nach vorn, blickt in die Menge und breitet seine Arme aus. Mit fester Stimme spricht er über einen, der lange verstorben ist und den kaum jemand der rund 600 Anwesenden persönlich kennt: Samuel ist der gemeinsame Ahne der acht Grossfamilien, die heute den Weg nach Malakialina – einem Dorf im madagassischen Hochland – auf sich genommen haben.
Alle Gäste gehören zu den Merina, dem grössten Volksstamm Madagaskars. Fast alle sind Christen, dennoch ist der traditionelle Ahnenkult nach wie vor weitverbreitet. Wer stirbt, ist nicht tot. Im Gegenteil: Die Verstorbenen steuern das Leben der Hinterbliebenen. Sie wachen über die Gemeinschaft und weisen ihren Mitgliedern den Weg. Im Gegenzug kümmern diese sich um die Gräber und veranstalten alle paar Jahre die Famadihana, die «Umbettung der Toten». Ausserdem ist es ihre Pflicht, die Fadys einzuhalten. Fadys sind Tabus – Verbote, die je nach Dorf oder Familie unterschiedlich sind: Bestimmte Ackerflächen dürfen nie genutzt, gewisse Tiere nicht geschlachtet oder ein Wald nicht betreten werden.
Trance und Tod
«Heissen wir unsere Ahnen willkommen», ruft der alte Mann und verliest den Namen des ersten Toten, der heute das Grab verlassen wird. Unter grossem Jubel drängen fünf Männer nach vorne. Einer kniet nieder und zieht an einem kleinen Hebel, der in der Erde versteckt liegt. Eine Staubwolke steigt aus der Gruft, als sich das massive Steintor einen Spalt öffnet. Die Männer stürmen hinein, die Bastmatte im Anschlag. Innen liegen die Toten, eingewickelt in Leichentücher, in steinernen Etagenbetten übereinander. Die Band spielt laut und schräg. Immer schneller schlagen die Trommler den Takt, immer wilder werden die Bewegungen der Tänzer. Zuckende Körper, brennende Sonne. Es riecht nach Schweiss und Alkohol. Wenig später kehren die Männer zurück ans Tageslicht – mit den Überresten ihres Vorfahren. Die Bastmatte haben sie um den Toten gewickelt, damit keine Knochen herunterfallen, falls das Leichentuch mürbe geworden ist. Mühsam bahnen sie sich ihren Weg durch die Menge. Bedrohlich schwankt die Leiche über ihren Köpfen auf und ab, im Takt ihrer Schritte, im Takt der Musik.
erwartet. Auf der trockenen Wiese sitzen sich ein paar Frauen und Kinder gegenüber. Die Männer legen ihnen die Leiche auf die Oberschenkel. Vorsichtig berühren sie die Bastmatte, die den toten Körper nicht vollständig umschliesst. Das Leichentuch ist mit Stockflecken gesprenkelt und verströmt einen modrigen Geruch. Immer mehr Namen werden verlesen, immer mehr Tote verlassen ihr Grab. Schliesslich ist der gesamte Platz mit Leichen übersät. Einige sind von aussen nicht mehr als Überreste eines Menschen identifizierbar. Nach Jahrzehnten in der Gruft ist fast nur noch eine schmale Hülle aus Leichentüchern übrig. Wer keinen direkten Angehörigen in einer Bastmatte hat, wandert von Familie zu Familie. Die Musiker, fünfzehn Männer in blauen Trainingsanzügen der Equipe Tricolore, ziehen das Tempo an. Trance und Tod. Rasende Körper, aufgerissene Augen. Zu ihren Füssen die Leichen. Ganz still.
Mirana sitzt neben ihrem Vater, schweigend, schluchzend. Zu sehr schmerzen die schönen Erinnerungen an ihre Kindheit. Nichts ist momentan ferner als ihr Alltag in der Hauptstadt Antananarivo. Dort lebt die 31-Jährige gemeinsam mit ihrem Mann. Seit dem Abschluss als Master of Commerce & Management arbeitet sie in einer Organisation, die Mikrokredite an Kleinunternehmer verteilt. Ein guter Job, eine andere Welt. Mirana trägt ein schwarzes T-Shirt von Calvin Klein, schwarze Nike-Turnschuhe und eine Brille mit markantem Rand. Zu Hause gibt es Internet und die neusten Filme auf DVD. Hier sitzt sie nun auf dem Land und umarmt die Überreste ihres Vaters.
Der Tod als Tradition
Für die Merina ist es gewissermassen ein Ziel, Ahne zu werden. Natürlich will niemand sterben, doch das wahre Leben beginnt erst mit dem Tod. Daher gibt es unter den Lebenden weder Ehrgeiz noch Zeitdruck – zumindest auf dem Land. Die Menschen ordnen sich vollkommen den Bedürfnissen der Sippe und der Ahnen unter.
Seinen Ursprung hat der Brauch in Südostasien. Insbesondere aus Borneo kamen wohl im 8. Jahrhundert immer wieder Seefahrer über das Meer und siedelten sich auf Madagaskar an. Die Famadihana wird in der Regel alle fünf bis elf Jahre durchgeführt. Wichtig ist, dass es eine ungerade Zahl ist. Sie ist nicht teilbar und symbolisiert so den Zusammenhalt innerhalb der Familie sowie zwischen den Lebenden und den Toten. Der Zeitpunkt ist abhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Familie und dem spirituellen Druck durch die Toten. Denn oft erscheinen sie ihren Nachfahren im Traum. Friert der Tote im Traum, ist ein frisches Leichentuch fällig. Das Einwickeln ist wichtiger Bestandteil der Zeremonie. Die Tücher haben verschiedene Farben und sind je nach Status von unterschiedlicher Qualität. Man zeigt, was man hat. Im Leben und danach.
Anstossen mit den Ahnen
Auch bei den Merina ist eine Beerdigung traurig. Ein Abschied. Bis zur Famadihana. Dort überwiegt die Freude über das Wiedersehen. Weinen ist verboten. Mirana hat sich wieder unter Kontrolle, die Tränen sind versiegt. Die Zeremonie hilft beim Verdrängen. Konzentrieren, funktionieren. Gemeinsam mit ihrer Familie kleidet sie ihren Vater neu ein. Vorsichtig legen sie die Leiche zunächst mit der Bastmatte auf den Boden. Anschliessend wird das alte Bündel mit grösster Sorgfalt angehoben. Das neue Tuch wird eng um den Toten gewickelt und mit Bändern verschnürt. Jetzt wird die Leiche geherzt, gestreichelt und gedrückt. Miranas Lippen bewegen sich ununterbrochen, ihre Finger krallen sich ins frische Leichentuch.
Überall dasselbe Bild: Frauen reden behutsam auf ihre toten Männer ein. Erzählen, was seit ihrem Ableben passiert ist: Wer geheiratet hat, wer weggezogen ist oder wer ein neues Haus gebaut hat. Neue Familienmitglieder werden den Toten vorgestellt. Ein Junge isst ein Sandwich, während er seinen Opa zum ersten Mal berührt. Ein Mann setzt eine Flasche Rum an den Hals und streichelt mit der anderen Hand den Leichnam seines Bruders. Auch der Tote geht nicht leer aus und bekommt einen grosszügigen Schuss auf das Tuch gekippt. Alkohol ist allgegenwärtig auf einer Famadihana. Denn trotz aller Fröhlichkeit flösst der Kontakt mit dem Tod Angst ein. Diesen Zwiespalt lösen die meisten Madagassen mit Toaka Gasy. Während die Toten in der Sonne liegen, haben sich manche Gäste in den Schatten verzogen. Einer liegt bereits hinter einem Strauch und schläft seinen Rausch aus. Seine Kappe mit der Aufschrift «I love Jesus» neben ihm im trockenen Gras.
In fast allen Religionen ist die Totenruhe heilig. Wer sie stört, dem drohen in der Regel nicht nur spirituelle, sondern auch irdische Sanktionen. Fast alle Anwesenden sind Christen. Auf der Gruft thront ein kleines Kreuz. Für die Familien der Merina ist das kein Widerspruch zum Ahnenkult. In ihrer Vorstellung vermitteln die Toten zwischen den Lebenden und Gott, denn nur sie können mit ihm in Verbindung treten. Die Kirche sieht das etwas anders. Vor allem die Protestanten lehnen die Famadihana ab. Und ihr Einfluss ist sichtbar: Mehr oder minder unterschwellig wurden christliche Elemente wie Kreuze oder Gebete in die Rituale integriert, auf Althergebrachtes wird verzichtet. So wurde das Datum für die Famadihana traditionell von einem Seher bestimmt – für die Kirche nicht hinnehmbar. Auch die Grossfamilie von Mirana hat den Termin dieses Mal selbst festgelegt.
Für Mirana ist die Leichenumbettung ein Fest für die Hinterbliebenen, damit sich alle Familienmitglieder regelmässig treffen. Gemeinsam essen, tanzen und feiern – das ist für viele der jüngeren Gäste das Wichtigste an diesem Wochenende. «Natürlich respektiere ich die Ahnen, aber sie haben keine Macht über mich», sagt Merina leise, aber mit trotzigem Unterton. Tiana Rokotomamonjy sieht das anders. Er trägt eine braune Stoffhose, ein weisses Shirt und die Verantwortung für die Famadihana. Der 43-jährige Kunsthandwerker ist hoch angesehen in der Familie. Mit seiner Ehefrau und acht Kindern lebt er am Fuss des Hügels, auf dem die Gruft steht. «Die Ahnen stehen in der Hierarchie über uns. Sie zu verärgern kann grosses Unglück herbeiführen und der ganzen Familie schaden», behauptet er. So haben Misserfolge ihre Ursachen stets in der Vergangenheit: Wer ein Fady gebrochen hat, verarmt. Wer die Famadihana nicht durchführt, wird Pech ernten.
Die Toten lähmen das Land
Aufgrund dieser Denkweise ist Madagaskar nicht entwickelbar. Sagen Entwicklungshelfer sowie Experten von Weltbank und Weltwährungsfonds hinter vorgehaltener Hand. Dem Land sei nur mit der Ausrottung der Geister zu helfen. Denn nach wie vor gehört Madagaskar zu den ärmsten Regionen der Welt. 2011 betrug das Pro-Kopf-Einkommen circa 428 US-Dollar. Versuche, die Landwirtschaft zu rationalisieren, scheitern immer wieder an den Fadys. Die immensen Kosten für die Leichenumbettungen lähmen die Wirtschaft: Für Essen, Trinken, die Band und neue Leichentücher kommen leicht mehrere Tausend Franken zusammen. Statt beispielsweise in ein kleines Unternehmen zu investieren, sparen die Menschen ihr Geld für die Toten. Viele Familien müssen sogar ihr Land oder Vieh verkaufen, andere verschulden sich auf Jahre. Die Ausgaben werden oft nur noch von der Investition in den Bau einer Gruft übertroffen. Meist sind die Grabstätten sogar teurer als Wohnhäuser und reich mit Figuren oder Malereien verziert. In der Gruft wird man schliesslich länger wohnen als in einem Haus, sagen die Merina. Der aussenpolitische Druck zeigt auch bei manchen Regierungsmitgliedern Wirkung. Immer wieder spielen Politiker mit dem Gedanken, den Ahnenkult zu verbieten. Doch umsetzen wird es vermutlich niemand: «Die Tradition abzuschaffen, würde bedeuten, die Seele und Kultur der Madagassen zu töten», sagt Tiana. «Das würde eine Revolution geben.»
Für die Famadihana hat sich Tiana nicht nur finanziell übernommen: Monatelang hat er diesen Tag geplant. Er hat die Genehmigung der Regierung eingeholt und gemeinsam mit den Familienältesten den Ablauf der Feier festgelegt. In den letzten Tagen war Tiana kaum ansprechbar. Fahrig lief er vor seinem Haus hin und her, ständig klingelte sein Telefon. Schliesslich galt es, die Erwartungen der Gäste zu erfüllen, der lebenden wie der toten: Die Band, das Festzelt, die Musiker – alles muss stimmen. Die Gäste müssen satt nach Hause gehen, die Toten wohlwollend gestimmt werden.
Leichen im Handgepäck
Als die Kraft der Sonne nachlässt, werden an der Gruft die Stifte gezückt. Jedes frische Leichentuch wird mit dem Namen der Verstorbenen versehen. So können sie bei der nächsten Famadihana identifiziert werden. Mirana drückt ihren Vater noch einmal fest an sich und streichelt sanft über seine Stirn. Ein letzter Gruss, ein Abschied auf Zeit. Im Takt der Musik werden die Leichen von den Angehörigen zurück in die Gruft getragen. Aus einem Bündel ragen Turnschuhe heraus.
Bis zur nächsten Famadihana bleibt das massive Steintor geschlossen. Wer in der Zwischenzeit stirbt, wird provisorisch begraben. Bei der nächsten Feier graben die Nachfahren die Leiche aus und bringen sie zum Familiengrab. Zumeist kostengünstig mit dem Taxi Brousse, den Kleinbussen, die auf Madagaskar den fehlenden öffentlichen Verkehr ersetzen. Daher sieht man im Südwinter – aus klimatischen Gründen dürfen die Famadihanas nur dann durchgeführt werden – beinahe täglich Taxi Brousse mit aufgesetzter Nationalflagge. Sie signalisiert, dass das Fahrzeug einen Toten transportiert. «Für uns ist es sehr wichtig, im Familiengrab in der Heimat bestattet zu sein», sagt Tiana. «Sonst findet der Geist keinen Frieden.» Und auch die Hinterbliebenen kommen nicht zur Ruhe. Ihre Aufgabe ist es, den Toten um jeden Preis heimzubringen. Und das ist wörtlich zu nehmen. Wenn der Verwandte im Ausland bestattet wurde, übersteigt der Rücktransport oft das Budget der Familie. So ist es keine Seltenheit, dass die Leichen gelegentlich in die Flugzeuge geschmuggelt werden – in Einzelteilen als Handgepäck.
Tiana wirkt erleichtert. Alles hat geklappt wie geplant. Die Toten dürften zufrieden sein. Für die Lebenden dagegen ist die Feier nicht vorbei: Tiana hält eine kurze Rede über den Zusammenhalt des Clans und betont die Wichtigkeit, an Traditionen festzuhalten. Danach stellt er alle Gäste namentlich vor. Ein wichtiger Akt: Nur wenn sich alle Familienmitglieder kennen, kann Inzest aus Unwissenheit vermieden werden. Die Band packt noch einmal ihre Instrumente aus. Der Zuspruch zum Toaka Gasy bleibt unverändert hoch, die Luft über der Tanzfläche riecht nach Destillat. Die Gäste fallen sich freudetrunken in die Arme, in einer Ecke kommt eine alte Fehde ans schummrige Mondlicht, die Tiana gerade noch schlichten kann.
Am nächsten Morgen vegetieren die meisten Gäste antriebslos im Schatten. Blutunterlaufene Augen, alkoholschwangerer Atem, gelallte Worthülsen. Geschlafen hat kaum einer. Die meisten Grossfamilien machen sich direkt auf den Heimweg. Tiana bleibt vor seinem Haus zurück. Müde schaut er den abfahrenden Autos und Bussen hinterher und lächelt. Das erste Mal seit Tagen. Ab sofort muss er sparen. Für die nächste Famadihana.
Mirana glaubt nicht an eine Zukunft der Leichenumbettung: «Das Leben auf Madagaskar wird immer schwieriger aufgrund der Konjunktur und der unklaren politischen Situation. Schon jetzt haben sich die Abstände zwischen den Umbettungen fast überall vergrössert und ich denke, das wird sich so fortsetzen.» Doch es ist nicht nur die Ökonomie, die die Tradition bedroht, sondern auch die moderne Lebensweise. Internet und Fernsehen heizen die Sucht nach Autos, Handys und westlichem Lebensstil an. Konsum trifft Kultur. Das Geld wird von den Lebenden für die Lebenden genutzt. Auch in den Städten gibt es immer mehr Menschen, die den Ahnen den Rücken kehren. Wer nicht durch Unglück oder Krankheit an die Macht aus den Gräbern erinnert wird, bleibt den Famadihanas fern. Familienbanden bröckeln, besonders wenn Teile des Clans in die Stadt ziehen.
Und wenn die Famadihanas doch überleben sollten? Mirana wird später in der Familiengruft ihres Mannes beigesetzt. «Wenn wir beide tot sind, werde ich glücklich sein, neben ihm zu liegen. Was mit meinen Knochen passiert, ist zweitrangig.»
Text Christian Scnohr, Bilder Christof Mattes
Eine schaurig schöne gruselige Geschichte. Madagaskar ist ein spannendes Reiseland.