Bhutan gehört zu den unbekanntesten Ländern der Erde. Im März noch im Fussballglück hatte das kleine Königreich kurz darauf mit den Auswirkungen der Erdbeben im nahen Nepal zu kämpfen.
Bruttonationalglück. Was für ein Begriff! Es sei wichtiger als das Bruttoinlandsprodukt, gab der König einst die Devise aus. Die Folge: Nicht das wirtschaftliche Wachstum steht in Bhutan im Mittelpunkt, sondern das Glück der bhutanischen Bevölkerung. Und irgendwie sieht man das auch: das kleine Mädchen hat zwar kein Spielzeug, aber Spielkameraden. Der alte Mann würde in Europa wohl im modernen Rollstuhl sitzen, aber er wäre wahrscheinlich alleine. In Bhutan hilft ihm seine Familie. Die eigentliche Gebrechlichkeit gerät dadurch in den Hintergrund.
Eingezwängt zwischen den beiden Riesenstaaten China und Indien nimmt sich das kleine Bhutan Freiheiten wie kaum ein anderes Land dieser Welt. Freiheiten, um sein Glück zu finden und um sich zu schützen. Das meint zumindest der König, Jigme Khesar Namgyel Wangchuck, der sein Land, tief geprägt vom Buddhismus, seit 2008 demokratisch regiert. Bhutan hat etwa die Grösse der Schweiz, ist immer noch weitgehend unerschlossen und lässt jedes Jahr – und zwar erst seit 1974 – nur 5000 bis zuletzt maximal 30 000 Besucher ins Land, die noch dazu einen beträchtlichen Tagessatz von 200 USDollar löhnen müssen. Backpacker und Trekker bleiben somit draussen. Das Land ist schlicht zu teuer für die meisten von ihnen. Durch diese Zugangsbeschränkungen soll der Tourismus die Kultur und Traditionen der rund 750 000 Einwohner nicht zerstören, ja nicht einmal beeinträchtigen. Auch die Umwelt wird damit so wenig wie möglich belastet. Bhutan war bis in die späten 1960erJahre sogar komplett abgeschottet, hatte keine eigene Währung, kein Telefon, keine Post, keine Schulen, keine Krankenhäuser und auch keine Strassen. Jeans waren unbekannt und Nationaltrachten in den Klosterburgen Pflicht. Das gilt sogar bis heute.
Ein Land im Fussballtaumel
Und dann das: Ein strammer Schuss liess das Königreich im vergangenen März in den FussballHimmel taumeln. Mittelfeldspieler Tshering Dorji schoss in Colombo bei den AsienAusscheidungsspielen zur nächsten FussballWeltmeisterschaft das einzige Tor zum 1:0Auswärtssieg der Nationalelf Bhutans gegen Sri Lanka. Es war der erste Sieg eines Qualifikationsspiels überhaupt. Bhutan lag zu diesem Zeitpunkt nicht umsonst auf Platz 209 der FifaWeltrangliste – als Schlusslicht. Das buddhistische Land lebte im FussballTaumel, hedonistisch, gedankenlos, zügellos. Der eigentliche Nationalsport Bogenschiessen war vergessen. Und wäre das Bruttonationalglück eine Aktie, hätte sie einen unglaublichen Satz nach oben gemacht.
Aber auf das grosse FussballGlück folgten nur gerade einen Monat später die verheerenden Erdbeben in Nepal. Die Ausläufer trafen auch Bhutan. Es gab zwar keine Toten, aber Strassen wurden gesperrt, Touren abgesagt, der Tourismus kam zum Erliegen. Das Bruttonationalglück hatte eine tief greifende Baisse und das eingezwängte Bhutan erlebte ein Wechselbad der Gefühle wie selten zuvor in seiner Geschichte.
Auch Rinzin Wangmo jubelte und weinte in diesen Monaten. Sie begrüsst die neuen Gäste des «Amankora» in einer Kira, dem traditionellen fersenlangen Gewand. Sie trägt ihr dunkelschwarzes Haar offen und ihr Blick ist weich, anmutig. Das AmanResort ist kein LuxusAman, wie man es aus Phuket, Bali oder anderswo kennt. Das spürt man von der ersten Minute an. Das «Amankora» liegt nicht nur über fünf Täler verteilt, jedes mit individuellem Charakter und einer grossartigen Bergkulisse: Paro, Gangtey, Bumthang, Punakha, wo jedes Jahr eines der schönsten Klosterfeste Bhutans stattfindet, und Thimphu. Es versprüht auch vom ersten Moment an jene Spiritualität, die einen fest daran glauben lässt, dass Bhutan das Beben psychisch gut verarbeitet hat, und das einen andererseits ungläubig staunen lässt über die Erzählungen aus dem 1:0FussballglücksHimmel.
Jetzt also fünf Täler und fünf Lodges: das Beste von allem. Denn man reist im sonst so einfachen Bhutan auf höchstmöglichem Niveau. Wobei dennoch traditionell gewohnt wird: So ist die «Amankora»Lodge in Paro entsprechend der bhutanischen Bauweise aus gestampftem Lehm erbaut wie ein Dorfhaus. Nur die riesigen Phalli, die aus Holz als Schutz vor bösen Dämonen normalerweise vom Vordach baumeln, die fehlen hier. Dafür erzählt Rinzin Wangmo den Schweizer Gästen schmunzelnd, dass im heiligen BumthangTal Käse hergestellt wird: Schweizer Käse notabene. Die Lacher sind ihr bei diesem Hinweis sicher.
Reisen nach strengen Regeln
Bhutan kann man nicht einfach so bereisen wie andere asiatische Staaten. Jeder BhutanEntdecker muss sich in die Hände eines Reiseveranstalters geben oder eben in die der AmanResorts. Bhutan ist auch bis heute sehr reglementiert. Da sind die religiösen Feste, alle fussend auf dem Buddhismus, die Zeremonien für Schutzgottheiten, die Stellung des Lamas, des wichtigsten religiösen Mannes im Dorf, und die Etikette, die Respekt vor Gläubigen und religiösen Einrichtungen sowie das Tragen der Nationaltracht einfordert. Das alles bestimmt bis heute das Leben, ausser ein Fussballer erzielt zufällig in der 84. Spielminute den Siegestreffer.
Bhutan verzaubert durch die Schönheit seiner imposanten Berge, die treppenartig von 200 Metern im Süden bis zu den ewig schneebedeckten Gipfeln des Himalajas auf mehr als 7000 Meter ansteigen. Oder anders ausgedrückt: Es geht von dichter Vegetation mit Papaya und Mandarinenbäumen bis zu unwirtlichen, meist wetterlaunigen und schneebedeckten HimalajaGipfeln.
Dazwischen immer wieder ländliche Szenerien mit Reisbauern und Vieh, dörfliche Heimeligkeit mit Lehmhäusern, die von Bambuszäunen geschützt werden. Yaks ziehen vorüber, Frauen weben, ein Säugling schreit, überall flattern die Gebets fahnen, drehen sich die Gebetsmühlen. Und die Klosterburgen wurden ohne Nägel erbaut, ohne Architekturplan, aber stets mit überlebenswichtigen Wassertunneln. Bhutans zwanzig Bezirke bringen zwanzig solcher mächtigen Dzongs mit sich. Selbst für den weltlichen und begehbaren Teil dieser Anlagen wird die angemessene Kleidung der Besucher kontrolliert. Einheimische müssen dort sogar die Nationaltracht tragen.
Dumpf dröhnt der Klang der mächtigen Trommeln, monoton klingen die Mantras der Mönche. Weihrauch liegt in der Luft. Es scheint, als habe sich seit dem 17. Jahrhundert, als etwa der Dzong von Paro erbaut wurde, kaum etwas verändert – abgesehen vom Kleider kontrollierenden Polizisten, der zu den Besuchern brav «thank you» sagt.
Rund 50 Kilometer sind es von Paro nach Thimphu, der bhutanischen Hauptstadt mit sagenhaften 80 000 Einwohnern. Sie ist die mit Abstand grösste Ansiedlung im ganzen Land, im Übrigen bis heute ohne Lichtsignal. «Das war den Leuten einfach irgendwie zu modern», erklärt Rinzin Wangmo, als die Gruppe wieder zurück in Paro ist. Dabei gab es doch tatsächlich einmal Pläne, ein Lichtsignal zu installieren. So ganz ist Bhutan halt doch noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.
Von Jochen Müssig