Äthiopien ist mit vielen negativen Klischees behaftet. Doch wer die Reise wagt, entdeckt ein Land von überraschendem kulturellem und natürlichem Reichtum. «Ein Unikat», sagt der Reiseleiter Fredy Hess.
«Ich unterziehe meine Gäste einer angenehmen Gehirnwäsche», sagt Fredy Hess und lacht. Dafür muss er nichts anderes tun, als ihnen sein Land zu zeigen. Denn die meisten Reisenden, die Hess am Flughafen von Addis Abeba abholt, hätten ein verzerrtes Bild von Äthiopien im Kopf. Ein Bild, das von den Medien geprägt ist, die jahrelang von Dürrekatastrophen, Krieg und Armut berichteten. «Die wenigsten Menschen wissen, wie grün und fruchtbar das Land ist, wie gebirgig, und welche einzigartigen kulturellen Reichtümer wir haben», sagt Hess, der für Vögele Reisen Gruppen durch Äthiopien begleitet. In seinen Augen ist Äthiopien ein perfektes Reiseland, das aber vom Tourismus noch nicht richtig entdeckt wurde. «Wahrscheinlich, weil es in keine Schublade passt. Es ist weder ein klassisches Safariland noch eine Badedestination. Es ist ein Unikat.»
Auf den Spuren des Grossvaters
Hess kennt das Land seit seiner Kindheit, er ist in Äthiopien aufgewachsen. Schon seine Grosseltern sind Ende des 19. Jahrhunderts mit Abenteuergeist und Geschäftssinn aus dem heimeligen Thurgau ins exotische Afrika ausgewandert. «Ich hatte eine wunderbare Kindheit», erzählt Hess. Während der Ferien war er wochenlang mit seiner Grossfamilie in den Bergen im Landesinnern beim Campen, am Langanosee zum Baden oder auf Ausflügen am Roten Meer – damals gehörte Eritrea mit seiner Küste noch zu Äthiopien. Als Hess jedoch zwölf Jahre alt war, kehrte ein Grossteil seiner Verwandtschaft nach Europa zurück. Hess machte in Zürich eine kaufmännische Ausbildung und arbeitete danach bei Hotelplan und Kuoni.
«Schon bei Kuoni habe ich erste Reisen nach Äthiopien organisiert. 1993, nach dem Ende des kommunistischen Regimes, bin ich dann ganz in das Land meiner Kindheit zurückgekehrt.» Damals trat Fredy Hess die gleiche Reise an, die sein Grossvater 115 Jahre vor ihm tat: Er brach nach Äthiopien auf, um wirtschaftlich Fuss zu fassen und am Aufbau des Landes teilzuhaben. Neben seiner Tätigkeit als Reiseleiter für Vögele Reisen leitet er zusammen mit seiner Mutter und einem Onkel eine Incoming-Agentur. «Wir hatten von Anfang an schnell Erfolg, es gab damals fast keine Konkurrenz», sagt Hess.
Die Chance, Schweizern als Reise leiter die Schönheit seiner Heimat zu zeigen, nimmt er besonders gern wahr. «Der grösste Teil von Äthiopien ist in den Bergen, die meisten Städte liegen hier mehr als 1800 Meter über Meer. Addis Abeba zum Beispiel geht von 2300 bis auf über 3000 Meter», erzählt Hess. Die Wüsten und Savannen, die sich die meisten vorstellen, wenn sie an Äthiopien denken, sind eher im Osten und Süden zu finden. Dort besuchen Gäste die verschiedenen ethnischen Minderheiten und bestaunen die endemische Flora und Fauna. Die grösste Attraktion im Land sind aber die kulturhistorischen Bauten. «Kein afrikanisches Land hat mehr Unesco-Kulturstätten als Äthiopien», sagt Hess. Über raschend seien beispielsweise die europäischen Schlösser mit afrikanischem Touch am nördlichen Ende des Tanasees und in Gondar aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Oder der angebliche Palast der Königin von Saba in Axum. Am eindrücklichsten und weltweit einzigartig sind laut Hess jedoch die Felsenkirchen wie in der Ortschaft Lalibela: Meist aus einem einzigen Steinbrocken gemeisselt, haben die Menschen vor rund 800 Jahren ganze Kathedralen geschaffen. Manche von ihnen sind im Boden versenkt, andere stehen mächtig erhoben. Die ältesten Felsenkirchen im Land werden auf das 4. Jahrhundert nach Christus datiert. Damals wurde das Christentum in Äthiopien als Staatsreligion eingeführt.
Ausgelassen feiern in Kirchen
Die Felsenkirchen werden heute noch rege genutzt. Die Gottesdienste an den Sonntagen sind laut Hess so gut besucht, dass nicht jeder drinnen einen Platz findet und das göttliche Wort technischer Verstärkung bedarf, damit auch die Gläubigen draussen mithören können. Auch die sozialistische Militärdiktatur von 1974 bis Anfang der 1990er-Jahre hat es nicht geschafft, der Bevölkerung die Religion zu entziehen. Wie stark die Menschen mit ihr verbunden sind, zeigt jedes Jahr das Timkat-Fest, das an die Taufe Jesus im Jordan erinnert. «Es ist das grösste christliche Fest in Äthiopien und wirklich jeder ist dann auf der Strasse», erzählt Fredy Hess. Die Zeremonie sei allerdings nicht mit einer christlichen Feier in der Schweiz vergleichbar: «Während des sakralen Teils ist es noch ziemlich ruhig, nachher wird aber ausgelassen gefeiert, getanzt und auch gelacht. Es ist ein sehr fröhliches, lebendiges Fest, richtig afrikanisch eben.»
Mit auf der Strasse sind am Timkat-Fest auch die moslemischen Einwohner Äthiopiens. «Es ist ein vorbildliches, friedliches Miteinander», beschreibt Hess das Zusammenleben. In den Städten sind etwa die Hälfte der Einwohner Christen, die andere Hälfte Muslime. Allgemein findet Hess, ist Äthiopien eine «Insel des Friedens und der Stabilität». «Die Kriminalitätsrate ist sehr tief für Afrika und die Wirtschaft wächst.» Zwar zählt Äthiopien noch immer zu den ärmsten Ländern der Welt, doch das Bruttosozialprodukt steigt dank ausländischer Investoren stark. «Man spürt und sieht den wirtschaftlichen Aufschwung. Den Menschen geht es heute eindeutig besser als noch vor zehn Jahren», erzählt Hess. Er ist überzeugt: «Äthiopien hat eine grosse Zukunft.»
von Stefanie Schnelli