Foto: ©Bernard van Dierendonck
Ich packe meine Koffer… «artundreise» fragt Lukas Hartmann
Herr Hartmann, Ihr neuster Roman «Auf beiden Seiten» spielt in der Schweiz und in Ostberlin um die Wende. Sie haben Ost- und Westberlin damals besucht. Hatten Sie zu jener Zeit einen besonderen Bezug zur Stadt?
Lukas Hartmann: Ja, Berlin hat mich immer stark angezogen, wegen seiner Geschichte und wegen der kulturellen Vielfalt. Ich verbrachte jeweils zwei, drei inspirierende Wochen in der Stadt, pendelte auch zwischen Ost und West und nahm die Atmosphäre in mir auf.
Was geht Ihnen heute durch den Kopf, wenn Sie in Berlin sind?
Ich staune, wie sehr sich die Stadt, zum Beispiel am jahrzehntelang verödeten Potsdamer Platz, von Mal zu Mal verändert, wie sehr Ost und West zusammengewachsen sind. Ich bin aber skeptisch gegenüber der Kommerzialisierung, dem überall spürbaren Profitstreben.
Mögen Sie die Stadt?
Ja, alles in allem sehr. Ich mag die grossartigen Museen, die Hagellandschaft und auch die «Berliner Schnauze» in den Kaffees.
Sie schreiben historische Romane, oft mit Schauplätzen im Ausland. In mehreren Ihrer Bücher sehnen sich die Protagonisten nach entfernten Ländern, sei es aus Heimweh oder aus einer Art Entdeckergeist. Kennen Sie selbst starkes Fernweh?
Oh ja. Schon als Kind habe ich mich unter der Bettdecke in abenteuerliche Fahrten hineinfantasiert. Es war der Drang, der kleinbürgerlichen Enge der Fünfzigerjahre zu entkommen. Und zugleich die Lust, die Welt kennenzulernen. Natürlich auch verbunden mit der Angst vor dem «Anderen».
Sie sind in Indien, Südamerika und Afrika gereist und haben eine Zeit lang in Rom gelebt. Was sind Ihre stärksten Erinnerungen aus diesen Destinationen?
In Indien hat mich das spirituelle Leben, das auf dem Land immer noch den Alltag prägt, enorm beeindruckt. In Südamerika war es das Erlebnis des Urwalds im Amazonasbecken, die Tier- und Pflanzenwelt. In Afrika die Freundlichkeit selbst der Leute, die in grosser Armut leben. Und in Rom habe ich erfahren, was es heisst, in und mit der abendländischen Geschichte zu leben.
Was bedeutet Reisen für Sie?
Aufbrechen, mich mit Neuem, Unbekanntem konfrontieren, daran wachsen, genau hinschauen, mich als privilegierten Bewohner dieses Planeten zu sehen getrauen.
Wie sind Sie am liebsten unterwegs?
Gemächlich, zu Fuss. Oder in Regionalzügen – und dies in jedem Land.
Gibt es Regionen auf der Welt, die Sie besonders reizen? Um sie zu bereisen oder auch als Kulisse für einen Roman?
Das wechselt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Was mich aber immer wieder anzieht, sind Regionen mit den Zeugnissen alter Kulturen. Das sind in Europa natürlich die Toskana, Sizilien, die Provence. In Bann gezogen hat mich vor ein paar Jahren Burma, heute auch Myanmar.
Wie nähern Sie sich den Ländern, die für Ihre Protagonisten eine zentrale Rolle spielen? Zum Beispiel Sansibar für «Abschied aus Sansibar»?
Beim Recherchieren für einen Roman lese ich zunächst sehr viel über die Schauplätze, spreche mit Fachleuten, reise dann nach Möglichkeit dorthin, bin unterwegs mit Notiz- und Zeichenblock, mit Fotoapparat und Tonbandgerät, sauge so viele Informationen auf wie möglich, bleibe aber, wie auf Hawaii oder Sansibar, oft auch stundenlang an einem Platz, lasse alle sinnlichen Eindrücke auf mich einwirken.
In Ihrem Buch «Bis ans Ende der Meere» beschreiben Sie, wie auf Captain Cooks dritter Expeditionsreise die Diskussion darüber entflammte, dass die Entdecker den Entdeckten, den sogenannt «edlen Wilden» auf den Inseln im Südpazifik, nicht nur viel Gutes aus Europa brachten, sondern auch Verderben durch Krankheiten und gleichzeitig eine Unterdrückung der lokalen Kultur einläuteten. Wie ist das heute? Denken Sie, der Tourismus schadet vielen Ländern mehr, als er hilft? Braucht es eine andere Art von Tourismus, ein Umdenken bei den Reisenden?
Vor- und Nachteile des Tourismus in der Dritten Welt halten sich vermutlich ungefähr die Waage. Ich bin persönlich für kleinräumigen, sanften Tourismus, der auch zulässt, sich mit den sozialen und wirtschaftlichen Problemen des Gastlandes auseinanderzusetzen. Inzwischen gibt es aber Experten, die meinen, es sei intelligenter, Touristengettos mit guten Arbeitsplätzen für Einheimische zu schaffen, statt eine Vermischung von Arm und Reich zu suggerieren, die bloss versteckte Ausbeutung tarne. Ich bin mit Reisen in arme Länder zurückhaltend geworden, bewege mich lieber innerhalb von Europa.
Waren Sie schon im Südpazifik? Wie haben Sie die Inselwelten erlebt?
Im Südpazifik war ich nie. Ich habe im Zuge der Recherchen für «Bis ans Ende der Meere» die Inseln Hawaiis besucht und war irritiert, wie schroff der Gegensatz zwischen dem «American Way of Life» und, abseits der Autostrassen, der Lebensweise der einheimischen Bevölkerung mit herumlaufenden Hühnern und Abfallhaufen ist. Es kam mir vor wie eine Karikatur der globalen Verhältnisse.
Machen Sie Ferien nach den Terminen für Ihr neues Buch? Wo machen Sie am liebsten Ferien?
Rund um den Erscheinungstermin eines Buches habe ich keine Zeit für Ferien. Aber sonst erhole ich mich am liebsten an einem See, zum Beispiel am Lago Maggiore, oder im eigenen Garten. Da beträgt die Reisestrecke nur zwanzig Meter.
Was haben Sie auf Reisen immerim Koffer?
Genügend Lesestoff.
Interview: Stefanie Schnelli
(Interview vom Dezember 2015)
Lukas Hartmann ist freier Schriftsteller und lebt mit seiner Frau Simonetta Sommaruga bei Bern. Er hat Germanistik und Psychologie studiert und war Lehrer, Journalist und Medienberater. Hartmann gilt als einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmässig auf der Bestsellerliste. Für «Bis ans Ende der Meere» wurde er 2010 mit dem Sir-Walter-Scott-Literaturpreis für historische Romane ausgezeichnet. Nach jedem Buch für Erwachsene schreibt Hartmann ein Buch für Kinder und umgekehrt. Zu seinen ersten Geschichten für junge Leser haben ihn seine beiden Töchter und sein Sohn aus erster Ehe inspiriert. Bis heute helfen ihm die Kinderbücher «im Gleichgewicht zu bleiben». 1944 geboren, wuchs Hartmann in Bern auf und verbrachte als Kind viel Zeit auf dem Bauernhof seines Grossvaters. Als dieser verkauft wurde, flüchtete er sich traurig in die Welt der Bücher. Auch Musik und Kunst interessierten ihn früh. Seine erste Geschichte kritzelte er bereits in der sechsten Klasse in ein Schulheft. Heute hat er mehr als 14 Romane und etwa gleich viele Kinderbücher geschrieben. Sein neuster Roman «Auf beiden Seiten», der um die Wende 1989/1990 in der Schweiz und Berlin spielt, ist im Frühling 2015 erschienen.