Früher habe man in Iran zu Hause gebetet und auf der Strasse getrunken. Heute wird auf der Strasse gebetet und zu Hause getrunken. Ein Augenschein in einem faszinierenden Land der Widersprüche.
Das Wort Paradies wurzelt im Altpersischen pairidaeza, was rundum ummauert heisst. Gemeint war damit ein Ort der Sicherheit, wo es auch Wasser und Schatten gab – in einem Wüstenland keine Selbstverständlichkeit. Die in jüngster Zeit errichteten Mauern waren allerdings politischer Natur und haben den Iran zunehmend isoliert. Doch nun beginnt sich der märchenhafte iranische Paradiesgarten langsam zu öffnen, und Besucher werden mit Gastfreundschaft und Neugierde willkommen geheissen.
Unsere Rundreise beginnt mit einem kurzen Augenschein in Teheran, einer jungen, ungestüm wachsenden Metropole mit über 12 Millionen Einwohnern. Über dem graugelben Häusermeer türmt sich im Norden das Elburz-Gebirge, wo bei guter Sicht der über 5600 Meter hohe Kegel des Damavand seine unzähligen schneebestäubten Schwestern und Brüder nur um ganz wenig zu überragen scheint. Der Verkehr auf den von dichten Baumalleen gesäumten Strassen ist zähflüssig, die Fahrer sind in der Regel aber recht geduldig und umsichtig.
Gelockerte Vorschriften
Die berüchtigten «Sittenwächter», die früher die Strassen unsicher machten, sind heute in die Polizei integriert und scheinbar mit Wichtigerem beschäftigt, als die Einhaltung von Kleiderordnung und geschlechtsspezifischen Vorschriften zu kontrollieren. So tragen zwar alle Frauen ein Kopftuch, doch die Girls drapieren es sehr lässig, und unter dem offenen, transparenten «Manteau» lugen zuweilen ein Minirock und Lurex-Leggings hervor. Auch am Händchenhalten scheint man sich in den Städten nicht zu stören. In den öffentlichen Bussen sitzen die Männer zwar immer noch in der vorderen Hälfte und die Frauen hinten, doch in die Taxis, die gelegentlich auch von Frauen gesteuert werden, steigt ein, wer will.
Während gewisse Vorschriften also langsam ausfransen, gibt es bei anderen kein Pardon: Auf unserer Busreise auf den mehrspurigen, durchwegs richtungsgetrennten Überlandstrassen hat der Chauffeur alle 100 Kilometer an einem Kontrollposten zu halten, wo seine GPS-Daten und seine Identität geprüft und mit einem Stempel im Bordbuch quittiert werden. Und je näher wir Afghanistan und Pakistan kommen, desto häufiger werden auf der vielbefahrenen «Drogenautobahn» die Checkpoints und desto mehr verlagert sich das Interesse der Uniformierten von den Bussen zu den zahlreichen schwerbeladenen LKWs. Für den Schmuggel und Handel mit Drogen steht noch immer die Todesstrafe.
Die Sicherheit, insbesondere die der Touristen, scheint den Behörden wichtig zu sein. Will man als Frau alleine unterwegs sein, muss man sich allerdings eine dicke Haut zulegen, denn viele Iraner sind schnell zu einem Flirt und mehr bereit. Da Bars und Dancings fehlen, hat sich die auch hier weit verbreitete Prostitution auf die Strassen verlegt. Steht eine noch dazu westlich aussehende Frau nur eine Minute etwas unentschlossen am Strassenrand, bremst jeder dritte Fahrer ab und sucht den Augenkontakt – Kopftuch und langer Mantel hin oder her. Von den Studentinnen in der Kleinstadt Kashan, unserer zweiten Station, wo wir den ältesten Paradiesgarten Irans, wundervoll restaurierte Herrschaftshäuser und den traditionellen Basar besichtigen, ist zu erfahren, dass es auch ihnen nach dem Eindunkeln nicht mehr wohl ist auf der Strasse, weil ihnen die Männer nachstarren.
Grosses Interesse am westlichen Besuch zeigen auch die Iranerinnen: Im Gespräch thematisieren sie bald die komplizierte Partnersuche, bei der beide Familien dreinreden, das Unverständnis der Familie, wenn man angesichts einer Scheidungsrate von 50 Prozent nicht heiraten möchte, den obligaten Jungfräulichkeitstest vor der Heirat, die exorbitanten Brautpreise, die so manchen Geschiedenen ins Gefängnis bringen, und die Unzugänglichkeit gewisser Berufe für Frauen. Für Politik, die immer wieder unerfreuliche Wendungen gebracht und das iranische Gesellschaftssystem wiederholt auf den Kopf gestellt hat, interessieren sie sich nur mässig. Sie wünschen sich etwas mehr Freiheiten, höhere Löhne, weniger Inflation und die Achtung der Menschenrechte. Das sind auch die Hauptgründe, weshalb viele junge Iraner auswandern. Das Heimweh bringt sie aber oft wieder zurück.
Was die Menschen nicht wollen, ist ein weiterer abrupter Regimewechsel, der wieder mit viel Leid und Unsicherheit verbunden wäre. In ihrer über 2000-jährigen Geschichte sind den Persern sowohl ihre Schrift als auch ihre ehemals zoroastrische Religion abhandengekommen. Die identitätsstiftende Rolle haben alte Traditionen und Bräuche übernommen, zum Beispiel das aufwendig zelebrierte Neujahrsfest zum Frühlingsanfang, aber auch die Sprache in Form der Gedichte eines Hafiz oder Saadi. Noch wird in Yazd, unserer dritten Rundreisestation, dem zoroastrischen Kult gehuldigt – der ersten monotheistischen Religion der Menschheit. Doch sind die imposanten Schweigetürme am Rande der lehmfarbenen Wüstenstadt verwaist, nachdem sie Ende der 1960er Jahre aus hygienischen Gründen geschlossen worden waren. Bis dahin wurden die Toten auf den zwei durch riesige Mauern umfriedeten Berggipfeln den Geiern zum Frass hingelegt, um weder die Erde noch das Wasser noch die Luft zu verschmutzen. Früher standen die zwei markanten Kegel einsam weit ausserhalb der Stadt; heute dehnen sich zu ihren Füssen die Universität, Neubauviertel und ein Park aus. In der Altstadt mit ihren lehmverputzten, niedrigen Häusern und den hohen, kühlenden Windtürmen wird in den verwinkelten Gassen überall gepflastert und restauriert. Doch leben will hier kaum noch jemand.
Vorbei an blühenden Aprikosenhainen, an Reihen von noch kahlen, silbernen Pistazienbäumen, kalksteinfarbenen Bergdörfern und über drei Pässe gelangen wir nach Shiraz, unserem vierten Programmpunkt. Doch hier scheinen von der Liebe, den Rosen und den Nachtigallen, die zu den Attributen der Stadt zählten, nur noch die Blumen in den Gärten rund um die Grabmale der berühmten Dichter überdauert zu haben – und deren Poesie. Die Iraner verehren ihre Dichter wie Heilige und pilgern regelmässig zu deren letzten Ruhestätten, rezitieren dort ihre Gedichte und ergötzen sich an der blumigen Sprache, der Vielschichtigkeit der Worte und der Freiheit der Gedanken.
Von Lucie Paska