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Hart treffen die Kontraste in der Metropole Tokio aufeinander, und doch bleibt neben der Hektik und Modernität auch Platz für leise, sinnliche Töne und alte Künste.
Tokio ist trotz der Grösse eine zugängliche Stadt, die sich bereitwillig auch in wenigen Tagen den Puls fühlen lässt. Der Flugplatz Haneda liegt praktisch mitten in der Metropole, und mit dem Taxi ist es bloss eine halbe Stunde nach Downtown. Der Verkehr an diesem Freitagmorgen ist flüssig, der Himmel wolkenverhangen. Wir schlängeln uns durch Unterführungen, überfliegen auf einer Hochbrücke drei unter uns liegende Strassen sowie mehrere schiffbare Kanäle und tauchen immer tiefer in die Hochhausschluchten. Auf den Trottoirs hasten Menschen mit Regenschirmen, die sich an den Kreuzungen stauen.
In Ginza, dem Business-Herzen Tokios, empfängt uns kühle Stahl- und Glas-Architektur. Als Zwerg unter Riesen und eine Reminiszenz aus einer anderen Zeit wirkt die mitten im Quartier liegende Tokyo Station – von vorne ein englisch anmutender Bahnhofsbau aus roten Ziegelsteinen von 1914, von hinten ein futuristisches Tor zur Unterwelt. Von hier aus schiessen die Shinkansen-Züge wie Hauptschlagadern in den Nordosten beziehungsweise den Südwesten der lang gezogenen Insel.
Direkt neben diesem etwas unterkühlten Herzen liegt die Lunge der Millionen-Metropole – die kaiserlichen Gärten. Die breite, lärmende Ringstrasse um den stillen, tiefliegenden Wassergraben, der das riesige bewaldete Gelände umschliesst, hält die Hochhaustürme in respektvoller Distanz. Eine imposante Mauer aus dunklen Steinquadern hebt die ganze Palastanlage aus der Erde empor und scheinbar über das Alltägliche, Menschliche hinaus. Junge Trauerweiden beugen ihre Äste über das stehende, dunkelgrüne Wasser, wo sich Schwäne putzen. Und alte, manikürierte Föhren umstehen wie eine Armee unbeweglicher Soldaten die Zugänge. Montags und freitags geschlossen, steht dann allerdings auf dem Wachhäuschen.
Zum Trost und als Kontrastprogramm zur kühlen Erhabenheit wählen wir – da es noch Morgen ist – den berühmten Tsukiji-Markt, den grössten Fischumschlagplatz der Welt. Hier pulsiert das Leben schon vor Tagesanbruch. Tausende Lastwagen und Dutzende Schiffe bringen täglich Tonnen von frischem und gefrorenem Fisch aus Japan und Übersee auf die künstliche Insel, die nach dem grossen Erdbeben von 1923 aufgeschüttet worden war. Die grossen und kleinen sargähnlichen Styroporboxen werden auf wendige Elektromobile und Handkarren umgeladen und in die niedrigen Hallen mit schummrigem Licht verfrachtet. Dort wechseln die Thunfische, darunter der weltweit geschützte Blauflossentuna, in Auktionen und die kleineren Verwandten über direkten Verkauf die Hand. Auch Walfleisch sei erhältlich, wird uns versichert.
Die unzähligen Helfer und Fahrer haben Handtücher um die Köpfe geschlungen, schwitzen und hetzen, aber es wird weder geschrien noch geflucht – wir sind in Japan. Zum Mittagessen stehen die Touristen vor den Sushibars Schlange, die Marktarbeiter setzen sich dagegen in die einfachen Rindfleischrestaurants nebenan. Aus hygienischen und Platzgründen soll der Fischmarkt im nächsten Jahr umziehen. Was bleibt, ist der quirlige äussere Markt, wo man sich fast wie auf einem orientalischen Bazar durch Menschenmengen kämpfen muss. Doch statt Nüssen und Gewürzen locken hier Austern, getrockneter Tintenfisch, gepresstes Seegras und allerlei Eingelegtes und Eingeschweisstes.
Die Kraft kleiner Gesten
Nach so viel Fischgeruch und Gedränge zieht es uns wieder in eine der grünen Oasen Tokios: den Meji-Schrein auf einem Hügel im Nordosten der Stadt. Er grenzt direkt an das Harajuku-Teenager-Einkaufsviertel. Nicht nur die Läden sind hier besonders grell und kitschig, sondern auch die Kundschaft: rosa Haare und Kniestrümpfe, Plateauschuhe mit Maschen, Gepunktetes, Kariertes und Getigertes in jeder nur erdenklichen Kombination und darüber ein wogendes Meer von Regenschirmen. Direkt hinter diesem bunten Gewusel steht stoisch ein Urwald. Dort taucht man nach einem riesigen moosgrünen Torii – dem heiligen Torbogen – ein in eine dampfende und neblige Blätterwald-Kathedrale. Wir beobachten elegante Hochzeitsgesellschaften, die in dem ausladenden Shinto-Schrein den Segen des Priesters empfangen, und Betende, die die Götter mit Klatschen auf sich aufmerksam machen, um sich dann vor ihnen zu verneigen, ihren Beistand zu erbitten und ihnen mit einer Münze zu danken.
Japaner sind Meister der kleinen, verhaltenen Gesten, was sie jedoch nicht weniger bedeutungsträchtig macht. Respekt scheint dabei die alles überragende Maxime zu sein – den Lebenden, den Toten, dem Überlieferten und den Göttern gegenüber. Dass man hier als ungeduldiger Westler gelegentlich ins Fettnäpfchen tritt, ist nicht zu vermeiden. Tröstlich ist, dass die Japaner in der Regel von den guten Absichten ihres Gegenübers ausgehen und über Fauxpas wie Händeschütteln, Vergessen sich zu verneigen und die Schuhe auszuziehen oder den Wunsch nach kurzfristigen Änderungen mit einem Lächeln hinwegsehen. Auch sollte man die Ränder der Tatamimatten nicht betreten, nach dem Knien mit dem rechten Fuss zuerst auftreten und so weiter und so fort. Wutausbrüche sind ein absolutes No-Go.
Die Kunst von Schönheit und Würde
Wer nicht nur die komplizierten japanischen Konventionen, sondern auch viele der überlieferten Künste wie Kalligraphie, Ikebana, Dichtung, Shamisen-Musik und traditionellen Tanz noch beherrscht, bewahrt und weitergibt, sind die Geiko – die «Kinder der Künste». Den Begriff Geisha versuchen sie zu vermeiden, da ihm der Ruch der Edelprostituierten anhaftet. Die Geiko soll die ideale Gastgeberin und Frau verkörpern, die fähig ist, anspruchsvollen Kunden eine erlesene Unterhaltungsform mit Tiefgang zu bieten – vorausgesetzt, sie können Japanisch. Dass sich jemand in ihren Ryotei genannten traditionellen Restaurants betrinkt und womöglich anzüglich wird, weiss sie elegant zu verhindern.
Wie ernst und leidenschaftlich diese Berufsgattung ihre Anliegen vertritt, erfahren wir anlässlich einer Audienz im Ryotei «Tsunara» bei der Grand Dame der Tokioter Geiko: Ikukosan. Von den 425 Geishas, die ab den 1920er-Jahren im Unterhaltungsviertel Akasak arbeiteten, sind heute nur noch zwanzig übrig geblieben.
Ikuko ist mit 76 Jahren die erfahrenste und bekannteste unter ihnen. Sie wurde diesen Frühling von der japanischen Regierung als erste Geisha überhaupt für ihre kulturfördernde Tätigkeit ausgezeichnet. Weiss geschminkt – weil man sie früher bei Kerzenlicht sonst nicht gesehen hätte –, mit schwarz-rotem Augen-Make-up und leuchtend roten Lippen, sitzt sie in einem reich bestickten Kimono und hochgestecktem Haar am niedrigen Tisch und beantwortet mit einer Übersetzerin unsere Fragen. Anders als in den Büchern und Filmen, die wir im Westen kennen, habe sie nicht die Armut ihrer Eltern, sondern die Schönheit und Würde der Geisha zu diesem Beruf hingezogen. Mit 16 Jahren sei sie gegen den Willen ihrer Eltern in eine Okiya, eine Art Internat, gezogen, um sich ganz der Kunst zu widmen. «Ich habe es nie bereut», sagt sie stolz und ein klein wenig trotzig. Es ist schwer, eine Lebensform untergehen zu sehen, die so viel an japanischem Raffinement in sich vereint.
Von Lucie Paska
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GUT ZU WISSEN | |
Swiss fliegt direkt von Zürich nach Tokio. All Nippon Airlines (ANA), die grösste Fluggesellschaft Japans, bietet Direktflüge von Frankfurt, München, Düsseldorf, Paris, London und Brüssel nach Tokio, Haneda und Narita an. Die Abflugzeiten werden auf die Zubringerflüge der Lufthansa und der Swiss abgestimmt. Als eine von sieben Airlines weltweit wurde ANA 2016 das vierte Mal in Folge mit dem höchsten Skytrax-Ranking von fünf Sternen ausgezeichnet. | Wer gerne einen direkten, unverzerrten Einblick in das Leben in Japan erhalten möchte, kann sich an die junge deutsche Bloggerin und Händlerin von Vintage- Kimonos Anji wenden, die seit sechs Jahren in Tokio lebt, mit einem Einheimischen verheiratet ist und Japanisch spricht. Anders als die meisten offiziellen Reiseleiter vermittelt sie ein ungeschöntes Bild des Landes. www.salz-tokyo.com |
DER TIPP DER SPEZIALISTIN |
«Die Seligkeit eines Augenblicks verlängert das Leben um tausend Jahre». Dieses japanische Sprichwort beschreibt sehr gut, wofür Japan steht: Vielfältige, einzigartige Erlebnisse, die mit allen Sinnen wahrgenommen werden und die lang anhaltend in Erinnerung bleiben. Japan – das ist die Faszination der Gegensätze: Tradition trifft auf Modernes, beruhigende Meditation misst sich mit lautem Karaoke, Grüner Tee weckt die Sinne und japanischer Whiskey gilt unter Kennern als Rarität. Das Übernachten in einem Ryokan, einem traditionellen Gasthaus, darf auf keiner Japan-Reise fehlen. Die Gastfreundschaft wird hier besonders gepflegt. Der Besucher begegnet der alten Welt Japans, schlüpft in den Yukata (den Haus-Kimono) und geniesst die japanische Küche von ihrer besten Seite. Weitere Informationen: Globus Reisen, Tel. 058 569 95 55 www.globusreisen.ch Zur Rundreise «Japan – Faszination der Gegensätze»: www.globusreisen.ch/o-117364 Tipp von Monika Peter, Globus Reisen Special Tours |