Ich packe meine Koffer… «artundreise» fragt Sibylle Berg.
Frau Berg, Ihr neues Buch «Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten» ist eine Sammlung von Reiseessays und Reportagen aus Mazedonien, Italien, Deutschland, England, dem Orient-Express und von hoher See auf einem Kreuzfahrt-Riesen. Sie sind eine Bielgereiste – was bedeutet Reisen für Sie?
Am Anfang stand die seltsame Idee der Freiheit. Ich komme aus dem Osten, der bekannterweise eine Art Gefängnis war, und musste soviel wie möglich nachholen. Musste Bilder, die ich mir gemacht hatte, mit der Realität abgleichen. Ich kannte: den Osten. Sonst nichts. Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, reiste ich später ausschliesslich, um die Welt ein wenig mehr zu begreifen. Sprich: die Menschen zu verstehen. Ich wollte wissen, wie ein Krieg funktioniert, wie es sich in einem Slum lebt – wenngleich mir dies nur eine kleine Ahnung davon gab, denn ich durfte ja wieder weg, ich war nur ein Voyeur – wie es ist, mit Tod und Elend konfrontiert zu sein. Ich wollte Reiche verstehen und Idioten. Für mich war es unmöglich, literarisch zu arbeiten, ohne ein wenig von der Welt begriffen zu haben.
Sie beleuchten auch die absurden, verstörenden Seiten des Reisens. Wie gehen Sie mit diesen um?
Genau die habe ich gesucht. Vieles am Reisen ist absurd und abstossend. Sehen Sie sich an, was der Tourismus aus Paris gemacht hat – betrachten Sie abgeschottete Ferienparadiese in armen Ländern. Es gibt ausser Neugier wenig vernünftige Gründe, die für den Tourismus sprechen, und auch das viel zitierte «ja aber die Menschen in XY leben doch davon», halte ich für Quatsch. Ich habe mich immer ein wenig geschämt als Beobachterin.
Sollten wir also besser zu Hause bleiben und Reise-Dokumentationen auf Arte und 3sat schauen?
Wenn ich etwas hasse, dann sind es schöne Reise-Dokumentationen, die von einem sonoren Sprecher kommentiert werden. Die meisten der Berichte haben einen furchtbar kolonialherrschaftlichen Blick auf fremde Länder. In 99 Prozent solcher Sendungen sieht man glückliche Töpfer im Lehm hocken, Frauen in Trachten machen Volkstänze, der Orient-Express mit weissen Touristen schlängelt sich durch tropische Wälder. Diese Berichtchen sind sehr gut zum Ansehen, wenn man krank im Bett liegt und es draussen regnet. Für eine Idee von einem Land taugen sie wenig.
Sie stellen in Ihrem Buch der Schönheit der Destinationen Terror und schreckliche Fakten gegenüber und waren selbst Zeugin von Kriegswirren und Anschlägen. Hat das Ihr Reiseverhalten beeinflusst?
Gefahren gab es schon immer. Ich habe mich oft über die Naivität von Touristen gewundert, die in irgendwelchen Orten mit Diktaturen (zum Beispiel) als Geisel genommen wurden, und dann in Kameras weinten. Das ist das Risiko, wenn du deine Wohnung verlässt. Deal with it. Ich habe alles, was ich sehen zu müssen glaubte, gesehen, und reise fast nur noch, wenn irgendwo auf der Welt ein Stück von mir gezeigt wird oder eine Buchübersetzung in den Handel kommt. Urlaub hat mich als Konzept schon immer gelangweilt. Wenn verreisen, dann muss es teuer sein und weh tun, sodass man es sich zehn Mal überlegt.
In welchen Situationen packt Sie heute dennoch das Fernweh?
Eigentlich nur bei Dauerregen und Kälte in Zürich.
Und wo möchten Sie noch hin?
Rapallo, Capri… wart mal, nichts mehr? Nein, mir fällt gerade nichts Zwingendes ein.
Wohin möchten Sie nie wieder?
Sehr gerne verzichte ich auf Länder, in denen Frauen Freiwild sind. Bangladesch ist eine meiner schrecklichsten Reiseerinnerungen. Davon abgesehen fand ich Neuseeland ungemein langweilig.
Sie beschreiben im Buch Kreuzfahrten, Zugreisen und Autofahrten. Wie reisen Sie am liebsten?
Mit dem Motorrad nach Italien geht immer.
Welches sind Ihre schönsten Reiseerinnerungen?
Vermutlich die Erregung, die alles beim ersten Mal ausgelöst hat. Das erste mal Paris, Venedig usw. Ich war wie ein Hundewelpe, wollte gleichzeitig alles beriechen und überall sitzen und mich an Gebäuden schubbern.
Gibt es Dinge, die heute beim Reisen schöner sind als früher?
Es nicht mehr zu müssen.
Was haben Sie immer in Ihrem Koffer?
Sehr wenig gut geplante Kleidung und viel viel Medizin für alle Fälle, jede Menge Adapter, grünen Tee und einen Tauchsieder.
Interview: Stefanie Schnelli (im September 2016)
Sibylle Berg wurde 1968 als Tochter eines Musikprofessors und einer Bibliothekarin in Weimar geboren. Nach ihrer Flucht in die BRD studierte sie Ozeanografie und Politikwissenschaften an der Universität in Hamburg. Seit 1995 lebt sie in Zürich und Tel Aviv und hat die Schweizer Staatsbürgerschaft. Ihr Werk umfasst 20 Theaterstücke, 13 Romane und wurde in rund 30 Sprachen übersetzt. Sie schreibt Hörspiele, Essays, hat Dramaturgie unterrichtet und als Regisseurin gearbeitet. www.sibylleberg.com