In Florida locken die künstlichen Vergnügungswelten von Orlando und die touristischen Hotspots wie Miami und Key West. Diese erhalten nun aber Konkurrenz von einer experimentierfreudigen Westküste.
Eigentlich war er auf der Suche nach Guavabäumen, denn seine Konfitüren und Konserven fanden in den Vereinigten Staaten des ausgehenden 19. Jahrhunderts solch reissenden Absatz, dass die Produktion in Kuba mit der Nachfrage nicht Schritt halten konnte. Der erfolgreiche Geschäftsmann machte sich deshalb aus dem kühlen New York in den tropischen Süden der Staaten auf, um das Gerücht, dass es in der Region Tampa wildwachsende Guavas gebe, selbst nachzuprüfen. Die süsse Frucht haben Bernardino Gargol und sein Reisegefährte zwar nicht gefunden, aber dafür eine wirtschaftlich vielversprechende Gegend: riesige Landreserven, einen geschützten Hafen, ein angenehmes Klima, freundliche, arbeitsame Menschen und eine sympathische Kleinstadt, die bald durch die Eisenbahn an den hungrigen Norden angebunden sein würde.
Mit ihren enthusiastischen Schilderungen machten die zwei Männer auch einen gewissen Vincente Martínez Ybor hellhörig. Der kubanische Zigarrenfabrikant musste sich in seiner Niederlassung in Key West, wo aus kubanischem Tabak hochwertige Zigarren für den US-Markt hergestellt wurden, mit immer rabiateren Gewerkschaftern herumschlagen; fand kein zahlbares Land mehr für die Expansion seiner Fabriken, und die regelmässigen, durch Unachtsamkeit oder Sabotage ausgelösten Feuersbrünste richteten auf seinen Fabrikgeländen immer wieder riesige Schäden an. Eine kurzfristige Besichtigung Tampas überzeugte ihn vollends. Er kaufte Land und transferierte seine gesamten Aktivitäten an die Westküste Floridas.
Ein Patron und seine Stadt
Schnell sprach sich herum, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen in Tampa ausgezeichnet waren, und Scharen von Zigarrenmachern packten im damals noch von Spanien besetzten, unruhigen Kuba ihre Siebensachen und zogen nach Tampa. Ihnen folgten Immigranten aus Spanien und Italien, die als Gemüsebauern und Barbetreiber ihr Auskommen fanden, Bäcker und Bürolisten aus Deutschland sowie jüdische Händler.
Die von Don Martínez im Schachbrettmuster etwas ausserhalb der ursprünglichen Siedlung Tampa angelegte Arbeiterstadt, Ybor City genannt, wuchs kräftig. Bald verfügte sie auch über ein reichhaltiges kulturelles Leben und eine ausgeklügelte soziale Absicherung inklusive öffentlicher Spitäler. Diese wurden durch Abgaben auf den überdurchschnittlich hohen Löhnen der Tabakarbeiter und -arbeiterinnen finanziert. Frauen verdienten hier übrigens gleich viel wie Männer und hatten auch die gleichen Rechte und Chancen. Statt wie anderswo in Gewerkschaften und den Arbeiterkampf flossen hier viel Emotionen und Geld in die kubanische Befreiungsbewegung, was der Insel 1908 dann auch tatsächlich die Freiheit brachte. Aber nach dem Verlust dieses gemeinsamen Zieles, dem Aufkommen der maschinellen Zigarrenproduktion und der Zigarette sowie dem grossen Börsen-Crash der 1930er-Jahre war die Zeit der teuren, handgerollten Zigarren vorbei und mit ihr der Niedergang der einst stolzen Ybor City besiegelt.
Saloons, Bars und Zigarrenfabriken
Der Mafia-Film «Live by Night» von Ben Affleck (Premiere in den USA Januar 2017), der teilweise in Ybor City spielt, beschreibt diese raue Zeit sehr anschaulich. Für über zwei Generationen versank die Modellstadt im Dornröschenschlaf, entvölkerte sich und begann zu verlottern. Nur die entlaufenen Hühner der Pioniere haben sich trotz den Veränderungen zu behaupten gewusst, und ihre Nachkommen liefern sich noch heute täglich wilde Hahnenkämpfe in den Stadtparks. Vor ihnen fürchten sich sogar die Katzen.
Erst in den 1990er-Jahren erkannte Tampa den historischen Wert und damit das touristische Potenzial der ehemaligen Immigrantenstadt. Heute ist ein Teil restauriert und erinnert mit seinen dreigeschossigen Flachdachbauten, den Saloons, Bars und schmiedeisernen Balkonen an New Orleans. Die breiten, mit Ziegeln gepflasterten und mit Palmen gesäumten Strassen, die ausladenden ehemaligen Zigarrenfabriken mit ihren hohen Fenstern und die pompösen, kirchenähnlichen Kulturzentren erzählen eine Geschichte von Reichtum und Selbstbewusstsein.
Von der Cigar City zum Start-up-Hub
Heute hat diesen Part das moderne Downtown Tampa übernommen, das sich mit seinen glänzenden Hochhäusern auf einer Landzunge weit in die Tampa Bay hinausstreckt. Lange Zeit wurde dieser Teil der Stadt, der auf eine kleine Militärgarnison zurückgeht, von der wirtschaftlichen Kraft von Ybor City mitgetragen; jetzt fliessen die Geld- und Ideenströme andersherum, und wieder profitieren beide Seiten davon. Tampa ist dank dem warmen Klima, den zahlbaren Mieten, den kurzen Distanzen und der tiefen Kriminalitätsrate äusserst lebens- und entwicklungswert. Das haben nicht nur die vielen Jungen gemerkt, die nach ein paar Wanderjahren hierhin zurückkehren und kleine Start-ups im Gastro-, Tech- oder Tourismus-Business gründen, sondern auch Grossinvestoren wie ein Bill Gates oder Jeff Vinik, die in den kommenden Jahren Milliarden für die Umgestaltung alter Hafenanlagen in Wohnungen, Geschäftszentren und Parks in die Hand nehmen wollen.
Das Florida der einsamen Strände
Und noch einen Trumpf hat die Gegend: In nur 45 Minuten ist man aus dem städtischen Ballungszentrum an einem der unverschandelten, kilometerlangen weissen Strände. Sobald die Füsse den pudrigen, warmen Sand berühren, hat man das Gefühl, nicht eine knappe Stunde, sondern tageweit weg zu sein von der Zivilisation. Hinter den mit hohen Grasbüscheln bewachsenen, sanften Dünen erstreckt sich unter einem rosa Himmel der glitzernde, türkisblaue Golf von Mexiko, dessen perfekte Oberfläche am frühen Morgen nur hin und wieder von den Rückenflossen der vorbeiziehenden Delfine geritzt oder von den knapp darüber gleitenden Pelikanen gekräuselt wird. Alle paar hundert Meter steht ein bunter Reiher und fixiert mit zur Seite geneigtem Kopf die kleinen Wellen, kurz bevor sie brechen. Hin und wieder sticht er mit vollem Körpereinsatz ins Wasser und stakst stolz mit seiner zappelnden Beute im Schnabel davon. Etwas weiter hat eine Pelikanfamilie ihren Frühstücks-schwarm im glasklaren Wasser ausge-macht; wie schwere Kartoffelsäcke plat-schen die Vögel ins seichte Wasser. Viel eleganter machen es die kleinen Seemöwen, die von hoch oben pfeilgerade eintauchen und sich, wenn sie wieder aus dem Wasser geschossen kommen, kurz schütteln. Das Wasser hat die Temperatur einer Thermalquelle.
Anna Maria Island ist eine kleine, heile Welt, wo nichts die Palmen überragt, die pastellfarbenen, niedrigen Holzbungalows auf Sand gebaut sind und die Leute nirgendwohin hetzen. Ein kleines Kaffee, ein Donut-Shop, ein Veloverleih, ein paar Boutiquen und zwei exklusive Strandrestaurants, vor denen jeden Abend die Sonne aus einem flammend orangen Himmel in ein violettes Meer versinkt – was braucht es mehr, um für ein paar Tage abzuschalten?
Von Lucie Paska, Bilder: iStock
GUT ZU WISSEN
ANREISE:
Edelweiss fliegt zweimal pro Woche direkt von Zürich nach Tampa.
SEHENSWERTES:
In Tampa sind jeden vierten Freitag viele Museen, Führungen, Verkostungen und Transporte vergünstigt oder gratis. www.fourthfridaytampa.com
Die Stadt lässt sich gut zu Fuss, mit dem Wassertaxi, dem historischen Tram oder dem Gratis-Golfcart-Dienst Downtowner erkunden. www.ridedowntowner.com
Führungen durch Ybor City macht der ehemalige Zigarrendreher und heutige Historiker und Buchautor Wallace Reyes.
Für die Fahrt nach Anna Maria Island braucht man ein Taxi oder Mietauto, auf der zehn Kilometer langen Insel verkehrt ein Gratisbus. www.annamaria.com
Der Norden der Insel ist ruhiger, der Süden betriebsamer. Für ein Dinner im herausragenden, aber sehr kleinen «Beach Bistro» ist eine Reservation notwendig. www.beachbistro.com