An der Grenze zwischen Indien und Bangladesch liegt der grösste Mangrovenwald der Erde. Die Heimat des seltenen Königstigers ist kaum zugänglich. Und dennoch ist ihr Gleichgewicht bedroht.
Deutlich zeichnen sich im trockenen Uferschlamm die mächtigen Pranken eines Tigers ab. «Die Fährte stammt von letzter Nacht», sagt Tanjilur Rahman. Eine Schleifspur ins Gebüsch lässt erahnen, was sich an dieser Stelle wohl erst vor wenigen Stunden abgespielt hat. Die Raubkatze muss einen Axishirsch überrascht und in die Mangroven gezerrt haben. «Die Hirsche sind seine Hauptbeute», erklärt der Tierfilmer. Es ist noch früh am Morgen und der Wald schweigt. Aus einiger Entfernung sieht ein Silberreiher zu, wie der kleine Mann mit dem ergrauten Rauschebart entlang eines von der Ebbe freigelegten Uferstreifens wandert. Wie weit ist der Tiger? «Er kann uns vielleicht gerade sehen, aber wir bekommen ihn höchstwahrscheinlich selbst nicht zu Gesicht», sagt Rahman. «Die Tiere sind einfach zu schlau und perfekt getarnt.» Der Bangladescher filmte unter anderem für die BBC und den Discovery Channel die äusserst seltenen Königstiger der Sundarbans, der grössten Mangrovenwälder der Erde an der südlichen Grenze zwischen Indien und Bangladesch. Sie umfassen ein Gebiet von mehr als 10 000 Quadratkilometern im Mündungsgebiet des Ganges und des Brahmaputra. Etwa 60 Prozent des Unesco-Welterbes gehören zu Bangladesch. Es ist eine schier unzugängliche Welt, die allein den Gesetzen der Gezeiten, des Monsuns und den Hochwassern gehorcht.
Jahrelang begleitete Rahman die Königstiger durch ihren Lebensraum. «Einige Kameramänner gaben schon nach den ersten Metern im Schlamm auf», erzählt er. «Ich selbst war manchmal einen ganzen Monat lang unterwegs, um brauchbare Szenen einzufangen.» Mehr als 400 Königstiger sollen in den Sundarbans leben, die grösste zusammenhängende Population überhaupt. Naturschützer bezweifeln allerdings die offiziellen Zahlen. Sie glauben, dass heute nur noch weniger als die Hälfte durch das Labyrinth aus Dschungel und Meer streifen.
Ein hochkomplexes Ökosystem
«Innerhalb von sechs Stunden kann das Wasser hier bis zu viereinhalb Metern steigen», erklärt Rahman, während er in seinem Boot in einen natürlichen Kanal einbiegt. «Das stellt die Fauna und Flora vor ungeheure Herausforderungen.» Wer mit dem Tierfilmer durch die Sundarbans reist, lernt einiges über ein hochkomplexes Biotop im Wechsel der Gezeiten. «Mangrove ist nicht gleich Mangrove», erklärt Rahman. Es gibt mehr als 60 Arten, die alle ihre eigene Nische besetzen.» Durch den trüben Schlamm hüpfen glitschige Lebewesen mit übergrossen Glubschaugen und kräftigen Vorderflossen – eine Kreatur halb Fisch, halb Frosch. «Schlammspringer», sagt Rahman, «sie sind in der Evolution steckengeblieben, aber perfekt an das Leben hier angepasst. Bei Flut können sie sogar auf Bäume klettern.» Winzige Krabben verstecken sich in Millionen von kleinen Löchern. «Ihre unterirdischen Gänge sind wie Sauerstoffadern», erklärt Rahman, « für die Mangroven überlebenswichtig. Wir können nicht einfach nur sagen: Rettet die Tiger! und dabei die Krabben ganz vergessen. Alles hängt hier eng zusammen.»
Durch das enorme Bevölkerungswachstum rund um das Schutzgebiet sind die Sundarbans zunehmend bedroht. Immer mehr Wilderer jagen Hirsche und Tiger. «Nur etwa 150 Wildhüter sollen hier ohne moderne Ausrüstung ein Gebiet von 6000 Quadratkilometern überwachen», sagt Rahman, «wie soll das funktionieren?» Gleichzeitig wird durch illegalen Holzschlag und die industrielle Garnelenzucht das Ökosystem bedroht. Noch folgenreicher für die Sundarbans dürften aber der Anstieg des Meeresspiegels und die zunehmende Versalzung weiter Brackwassergebiete sein. Immer wieder kritisieren Naturschützer den Bau von neuen Dämmen und Industrieanlagen entlang des Ganges und Brahmaputra. «Die Sundarbans gehören nicht Bangladesch allein», sagt Rahman. «Wenn wir den Mangrovenwald zerstören, hat das Auswirkungen auf die ganze Welt.»
Expedition in eine gefährdete Welt
Am südlichen Rand der Sundarbans steuert am nächsten Morgen Malcolm Turner ein Zodiac-Schlauchboot in einen Seitenarm des Deltas. An Bord hat der australische Biologe eine Gruppe Touristen aus aller Welt. Sie sind mit einem Expeditionsschiff über Sri Lanka und die Andamanen nach Bangladesch gekommen. Die luxuriöse Silver Discoverer ist das erste Kreuzfahrtschiff überhaupt, das die Sundarbans ansteuert. Vorne im Boot sitzt ein einheimischer Wildhüter mit buschigem Bart und einem Holzgewehr im Anschlag – der Tiger wegen. Man weiss ja nie. Noch liegt Dunst über dem Mangrovenwald. Nur langsam kriecht die milchgelbe Sonne aus den Wipfeln der Sundar-Bäume. Aus dem Ufergestrüpp tönt ein heiseres Krächzen. «Nein, kein naher Hühnerhof», scherzt Turner, «wilde Bankivahähne, die Ahnen unserer Haushühner.» Als versierter Ornithologe hält er mit dem Fernglas Ausschau nach seltenen Vögeln. Mehr als 270 Arten kommen in den Sundarbans vor.
An Bord der Silver Discoverer hielt Turner vor Ankunft in den Sundarbans einen Vortrag über das bedrohte Welterbe. An die Wand warf er apokalyptische Bilder von verendeten Wasservögeln und Delfinen. Ein Tanker war im Dezember 2014 mit einem anderen Schiff zusammengestossen. Ein grosser Teil der 350 000 Liter Schweröl an Bord breitete sich entlang der Küste der Sundarbans aus. Die Flut trug den schwarzen Schlick bis in kilometerweit entlegene Mangrovenarme. Turner, der mehr als 30 Jahre für verschiedene Meeresschutzgebiete in Australien arbeitete, half als Gesandter der australischen Regierung bei der Erstversorgung von verölten Meeresvögeln. «Es fällt schwer, beim zunehmenden Druck auf die Meere ein Optimist zu bleiben», sagt der Biologe.
Plötzlich taucht vor dem Zodiac-Boot die Rückenflosse eines Delfins auf. Turner schaltet den Motor aus. Es ist ein Gangesdelfin. Immer wieder erscheint der graue Körper für Sekunden an der Wasseroberfläche. Der blinde Delfin ist gerade auf Jagdzug. Seine Beute, Fische und Garnelen, erwischt er allein durch Echoortung. Er gehört zu den letzten seiner Art. Einer seiner nächsten Verwandten, der Chinesische Flussdelfin, gilt seit einigen Jahren als ausgestorben. Er hat die Industrialisierung und den Aufschwung Chinas nicht überlebt. «Nur wenige Menschen haben heute das Vorrecht, einen Gangesdelfin mit eigenen Augen zu sehen», sagt Turner. Bonibi, die Schutzgöttin der Sundarbans, meint es an diesem Morgen besonders gut mit dem Biologen. Bei der Rückkehr zur Silver Discoverer kreuzt auf einmal auch noch eine Gruppe Irawadidelfine vor dem Boot auf. «Ich kann unser Glück kaum fassen», jubelt Turner. «Wir hatten gleich zwei der seltensten Delfinarten der Welt im Fahrwasser!» Was macht es da schon aus, dass sich die Tiger nicht blicken lassen wollten.
Von Winfried Schumacher, Bild: Fotolia
Expeditionskreuzfahrten
Als erstes Kreuzfahrtschiff überhaupt machte die luxuriöse Silver Discoverer in den Sundarbans Station. In den kommenden Monaten und 2018 stehen für die Silversea-Expeditionsflotte wieder einige Ersterkundungen auch im Golf von Bengalen auf dem Programm. www.kuonicruises.ch