Ich packe meine Koffer… «artundreise» fragt Liedermacher Pippo Pollina.
Pippo Pollina, Sie sind schon das ganze Jahr auf Tour. Im Oktober spielen Sie zum ersten Mal in der Ukraine. Kennen Sie die Region?
Nein, ich war noch nie in der Ukraine. Ich weiss wenig über die Region. Nun werden wir in den drei grössten Städten des Landes auf der Bühne stehen. Ich bin sehr gespannt. Der Veranstalter der Konzerte kommt aus Russland, vielleicht öffnet uns das ein Türchen. Russland ist wohl das einzige grosse, bedeutende Land Europas, in dem ich auch noch nie war. Ehrlich gesagt, hat es mich früher auch nie gereizt.
Nachdem Sie Sizilien 1985 verlassen hatten, reisten Sie drei Jahre lang durch Europa. Sind Sie immer noch gerne unterwegs?
Das war damals eine wunderschöne Zeit. Alles stand offen, ich war planlos, ging dorthin, wo mein Herz schlug, fragte mich nie für wie lange oder wofür. Dieses Lebensgefühl mit diesem Lebensstil verbinden zu können, bedeutet maximale Freiheit. Besser kann es nicht sein. So frei wie damals bin ich nicht mehr. Aber ich bin immer noch gerne unterwegs. Nach dem Konzert im Hallenstadion 2015 habe ich eineinhalb Jahre lang Pause gemacht. In dieser Zeit habe ich 18 Länder besucht. Ich war in der Türkei, in Griechenland, Frankreich, Österreich, in den Staaten Ex-Jugoslawiens, in England, Israel, Jordanien … Und nach wie vor reise ich alle zwei Monate nach Sizilien.
Was hat Ihnen besonders gefallen?
Griechenland. Ich fand die Griechen sehr entspannt, friedlich und freundlich. Israel hat mich hingegen eher bedrückt. Ich hatte nicht so ein gutes Gefühl dort. Die Stimmung empfand ich als belastend. Aber das Land an sich ist grosses Kino, Jerusalem ist grosses Kino.
Was bedeutet Reisen für Sie?
Zu reisen ist die beste Art, sich selbst zu entdecken. Durch Begegnungen mit fremden Menschen an fremden Orten begegnest du dir selbst.
Haben die Reisen Sie auch musikalisch beeinflusst?
In den 1970er-Jahren hat mich die politische Musik aus Chile und Argentinien geprägt. Ich entdeckte, wie eine poetische Sprache, die lyrische Welt, im Songwriting einen schönen Ausdruck findet.
Was haben Sie immer dabei, wenn Sie reisen?
Nicht meine Gitarre (lacht). Das Thema Musik lasse ich bei meinen Reisen inzwischen ganz weg. Lieder schreibe ich aus Erinnerungen, nicht direkt vor Ort.
Spielt deshalb Sizilien eine so wichtige Rolle in Ihrer Musik?
Auch, ja. Sizilien ist das Land der Träume. Es gibt viel kreative Energie auf der Insel, es wird viel geträumt, aber nichts verwirklicht. Es ist das Gegenteil der Schweiz. Hier wird nicht geträumt, sondern umgesetzt, materialisiert, organisiert. Die Möglichkeiten sind gross. Aber die ursprünglichen Ideen entstehen woanders. Die Schweiz ist kein Träumer-Land.
Was inspiriert Sie in Sizilien?
Die Sprache, die Kultur, die Antike – in jedem Stein kann man 3000 Jahre Geschichte lesen –, aber auch der Wandel. Vor 100 Jahren war Palermo nach Paris das wichtigste Zentrum der Belle Epoque, die Kultur explodierte förmlich. Heute müssen die Menschen das Land verlassen, um ihre Träume zu leben. Aber das ist der Lauf der Geschichte, es geht auf und ab. Obwohl man sagen muss, dass aktuell vieles besser ist als noch vor dreissig, vierzig Jahren.
Als junger Journalist haben Sie gegen die Mafia geschrieben. Beschäftigt Sie das Thema noch?
Klar, selbstverständlich. Ich bin nicht mehr so nahe dran wie früher. Einiges kann man aus der Distanz besser beurteilen, anderes lässt sich nicht richtig einschätzen. Aber ich verfolge das Thema.
Was machen Sie, wenn Sie auf Sizilien sind?
Ich besuche Freunde, Familie, geniesse das Wetter und das Meer. Das Meer ist wichtig in Ihrer Musik. Ja, die verschiedenen Vorstellungen des Meeres sind eine Inspirationsquelle. Es trennt Kulturen, Menschen, Länder, und es vereint sie. Es ist kein Bruch, sondern ein Durchgang. Es hat eine sehr lebendige Dimension, sich vorzustellen, was auf der anderen Seite des Meeres ist. Zudem ist es das Element Wasser, in dieser schieren Masse, das fasziniert.
Vergangenes Jahr haben Sie im Teatro Massimo in Palermo gespielt. Ging da ein Traum in Erfüllung?
Ja, das kann man so sagen. Ich kenne das Teatro Massimo, seit ich ein Kind bin. Es war immer geschlossen, über 20 Jahre, angeblich wegen Bauarbeiten. Der Grund war die korrupte Baupolitik der Mafia. Wir wussten alle nicht, wie es innen aussieht. Seit 1997 ist es nun offen. Einige sagen, es sei das schönste Opernhaus der Welt, und langsam fange ich an, das zu glauben. Dort zu spielen, war einzigartig für mich. Auch hat mich gefreut, dass viele meiner Fans mit mir nach Palermo gereist sind. Es waren rund hundert Schweizer im Publikum.
Im Dezember erscheint Ihr erstes Buch. Auch über Sizilien?
Auch, aber nicht nur. Es geht auch viel um die Schweiz. Dieses Buch war für mich eine Entdeckung, eine Therapie. Ich blicke darin zurück auf die vergangenen 40 Jahre und erinnere mich an die vielen Dinge, die in dieser Zeit auf der Welt passiert sind. Wir haben 200 Songtexte abgedruckt, sie sind der rote Faden durch die Geschichte. Für mich wird es spannend werden, wie das geschriebene Wort funktioniert – für einmal nicht das gesungene.
Interview: Stefanie Schnelli (im Oktober 2017)
Pippo Pollina, 1963 in Palermo geboren, gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Vertreter des modernen italienischen Autorenliedes. In den 1980er-Jahren studierte er klassische Gitarre und Musiktheorie am Konservatorium «Amici della Musica», engagierte sich in der Antimafiabewegung und arbeitete für die Monats zeitschrift «I Siciliani». Mit der Band «Agricantus» spielte er während sechs Jahren an zahlreichen Konzerten inner- und ausserhalb Italiens. Im Herbst 1985 folgten drei Reisejahre als Strassenmusiker, die ihn schliesslich in Zürich sesshaft werden liessen, wo er mittlerweile seit über 20 Jahren lebt. 19 Alben, über 4000 Konzerte im In- und Ausland sowie die Zusammenarbeit mit renommierten Künstlern zeigen, dass sich Pippo Pollina ständig in Bewegung befindet. Ende Jahr erscheint sein erstes Buch mit dem Titel «Die zwei Inseln», eine Art Autobiografie mit kompletter Sammlung seiner circa 200 Liedertexte. www.pippopollina.com