Die Transsibirische Eisenbahn ist für viele Europäer ein Mythos. Doch im Linienzug in der 3. Klasse von Wladiwostok nach Moskau wird die 9288 Kilometer lange Fahrt durchaus zur Herausforderung.
Die Frau, die aus der Kälte kam, schwitzt. Maria Schmeljova fächelt sich mit einer Postkarte Luft zu. Das Thermometer im Zug zeigt 36 Grad. Maria stammt aus einer der kältesten und grausamsten Ecken Sibiriens: Kolyma, ein Bergbaugebiet im Nordosten Russlands, in dem sich noch bis 1987 mehrere Straflager befanden. «Im Februar haben wir minus 60 Grad», sagt Maria. Selbst in Thermokleidung hält es dann draussen keiner mehr lange aus. Etwa 3000 Menschen leben in dem kleinen Ort, in dem Maria als Kinderbetreuerin arbeitet. Weil sie bald pensioniert wird, will sie den kalten Norden nach 18 Jahren endlich hinter sich lassen. Deshalb ist sie mit der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs zu Verwandten in Tschita, um zu testen, ob ihr diese Stadt gefallen könnte.
Einen Vorgeschmack auf mehr Wärme bekommt sie gerade in der dritten Klasse, der sogenannten Platzkartny, wo sich nur kleine Oberfenster einen Spalt kippen lassen und es selbst im Sommer keine Klimaanlage gibt. Die meisten Europäer kennen die Transsibirische Eisenbahn nur von einer Fahrt mit dem «Zarengold», einem luxuriösen Sonderzug mit Dusche an Bord und Plüsch in den Abteilen, der für gewöhnlich zwischen Moskau und Peking verkehrt und in dem man lediglich auf andere Touristen trifft. Dagegen lernt der Reisende in einem Linienzug das ungeschönte russische Leben kennen. Ein pathetisch klingender Zugname? Fehlanzeige. Dafür befährt Nummer 43 aber noch die ursprüngliche Hauptstrecke der Transsib von Wladiwostok nach Moskau. 2016 ist die Transsib hundert Jahre alt geworden. Im September 1916 waren die Bauarbeiten an der Amur-Brücke bei Chabarowsk abgeschlossen und die längste Eisenbahnstrecke der Welt war vollendet: 9288 Kilometer bis Moskau, 400 Haltestellen, 150 Stunden reine Fahrzeit, sieben Zeitzonen, die durchquert werden. Eine Pionierleistung, die von Zar Alexander III. und seinem Sohn Nikolaus II. bereits 1891 initiiert worden war, um einen schnelleren Truppentransport zu realisieren und neue Handelsrouten zu erschliessen.
Zug Nummer 43 ist mit fast 400 Passagieren so gut wie ausgebucht. In Russland fährt vor allem Zug, wer Zeit hat und Geld sparen möchte. In der ersten Klasse liegt man zu zweit, in der zweiten Klasse zu viert in einem Abteil. Die dritte Klasse gleicht dagegen eher einem Mannschaftslager, in dem bis zu 54 Leute in einem offenen Grossraumwaggon eng nebeneinander liegen. In der «Platzkartny» ist man nie allein.
Jeder steht jedem im Weg, aber höflich
Wagen 12, Platz 7: Die Zugführerin bringt eine lila-violett gemusterte Wolldecke und frische Bettlaken. Die Profis unter den Platzkartny-Reisenden verstauen erst ihr Hauptgepäck unterm Sitz, sortieren ihren Nacht- und Tagesbedarf in verschiedene Beutel und haben sogar eine Tüte für ihre Abfälle dabei. Kaum haben sich die meisten ihren Schlafplatz zurechtgemacht, kommt das typische Transsib-Outfit zum Einsatz: Die Damen schlüpfen in Joggingdress und Hausschuhe, während die Herren meist oberkörperfrei Badehose und Adiletten bevorzugen. Eine Frau hält ein Bettlaken vor die Liege, damit sich ihre Tochter dahinter umziehen kann. Gerade weil hier alle ihre Privatsphäre einbüssen, gehen die Menschen erstaunlich höflich miteinander um. Und obwohl man sich fast unausweichlich ständig gegenseitig im Weg steht, bleiben alle ruhig und gelassen, schliesslich weiss jeder, dass es dem Nachbarn nicht viel besser ergeht.
Im Zug gilt während der ganzen Fahrt Moskauer Zeit. Das hat die Bahn so festgelegt, damit einem die Zeitfrage bei sieben durchquerten Zeitzonen nicht allzu sehr verwirrt. Nach aktueller Zug-Zeitrechnung ist es nun sieben Uhr abends, das heisst für die Passagiere: Abendessen. Draussen auf dem Flur köchelt der Samowar. Die Zugführerin beheizt das Ungetüm noch mit Kohle, denn es handelt sich nicht um ein Hochglanzprunkstück aus dem Orient, sondern um einen rustikalen Kocher aus Emaille. Die meisten Platzkartny-Reisenden bringen ihre Mahlzeiten mit, nur wenige besuchen das Bordrestaurant. An der Atmosphäre der in die Jahre gekommenen Lokalität aus Sowjetzeiten liegt das jedenfalls nicht. Und auch die Köchin Victoria Pankratova weiss, dass sie nur gute Geschäfte machen kann, wenn sie alle Speisen frisch zubereitet. Traditionelle Suppen wie Borschtsch oder Soljanka sind ihre Spezialität. An Bewegung in ihrer Küche ist Victoria längst gewöhnt, schliesslich hat die 50-Jährige aus Wladiwostok auch schon auf einem Fischerboot gekocht. Kellner Alexander Iljin wartet jedoch oft vergeblich auf Kundschaft. «Früher kostete eine Soljanka 60 Kopeken, heute sind es 290 Rubel», sagt der Endfünfziger. Umgerechnet sind das fast vier Franken für eine Suppe. Das sei vielen Russen schlichtweg zu teuer. Deshalb zieht Iljin noch einmal mit seinem Wägelchen los. Bestückt mit Snacks und Softdrinks macht er sich auf den langen Weg durch die engen und immer voller werdenden Gänge. Die ersten Passagiere stehen bereits vor den Waschräumen an, um sich bettfertig zu machen. Duschen gibt es nirgends, Wasser ist im Zug kostbar.
500 Liegestützen auf dem Perron
Mit der Wahl des eigenen Liegeplatzes hat man Glück gehabt: Der befindet sich nicht in einem der vorderen Waggons, wo Soldaten das Ende ihrer Grundausbildung feiern. Mit jedem Tag entwickelt sich die Luft dort zur regelrechten Aromaabteilung. Denn die Jungs wechseln ihre weiss-blauen Ringel-T-Shirts nicht. «Die darf nur tragen, wer mindestens 500 Liegestützen am Stück schafft», sagt Dimitrij stolz, und mancher seiner Kumpels demonstriert den Mitreisenden den Liegestützen-Marathon bei einem Stopp auf dem Perron.
In grossen Bahnhöfen kann ein Aufenthalt schon einmal eine halbe Stunde dauern. Um den Ort zu erkunden, müsste man jedoch seine Fahrt unterbrechen. Deshalb bleibt nur Zeit, im Reiseführer nachzulesen, dass zum Beispiel in Ulan-Ude der grösste Lenin-Kopf der Welt steht, produziert 1971 als Beitrag Russlands für die Weltausstellung in Kanada. Weil den Sieben-Meter-Schädel danach keiner haben wollte, erinnerte man sich in der Republik Burjatien daran, dass man schon immer gern die abgeschlagenen Köpfe besiegter Feinde zur Schau stellte und schaffte Lenins Kopf in die Hauptstadt Ulan-Ude. Unterdessen wird hier die Lok gewechselt, Wasser getankt und ein Wagenmeister geht von Radsatz zu Radsatz und klopft mit einem langstieligen Hammer auf Räder und Bremsen. Die Reisenden nutzen den Stopp, um sich die Beine zu vertreten, eine Zigarettenpause einzulegen oder bei Frauen, die ihre Stände am Bahnhof aufgebaut haben, selbst gebackene Piroggen zu kaufen. Es soll schon vorgekommen sein, dass Zuggäste allzu sehr in einen Plausch vertieft waren und dann in Schlafanzug oder Badehose ohne Geld und ohne Papiere auf dem Perron zurückgelassen wurden. Denn der Zug fährt pünktlich ab. Ohne Pfiff und ohne Ansage setzt er sich einfach wieder in Bewegung. Die Handys haben bald Sendepause. In den Weiten der Taiga und Tundra herrscht himmlische Funkstille und beim Blick aus dem Fenster gibt es vor allem eines zu sehen: Birkenwälder.
In monotonem Zug-Delirium
Nur ab und an hält der Zug an einer kleinen Siedlung rot, blau und grün bemalter Holzhäuser. Der Bewusstseinszustand der Passagiere wird allmählich zu einem ewigen Kreislauf aus schlafen, essen, aus dem Fenster schauen, am Bahnsteig stehen und dösen. Irgendwann ist es dann mit einem Mal ganz ruhig und die Hauptlichter im Wagen werden gelöscht. Die Frage, ob gleich jemand anfängt zu schnarchen, stellt sich nicht, denn bei dem nervösen, harten Pulsschlag der Zugräder und dem Stampfen der Lokomotive verbindet sich bald alles zu einem monotonen Geräuschbrei, bei dem man hervorragend einschlafen kann: Ta-tam-ta-tam, Ta-tam-ta-ta-tam.
Am nächsten Tag unterbricht der Anblick des Baikalsees die Monotonie. Mit mehr als 1600 Metern ist er der tiefste Süsswassersee der Welt. Es gibt Robben und den Omul, einen köstlichen Fisch, der nur hier vorkommt. Gross ist für Wagemutige die Verlockung, in das klare Gewässer einzutauchen, auch wenn es nie wärmer als 15 Grad wird. Diesen See darf man nicht an sich vorbeiziehen lassen. Hier muss man endlich auch einmal aussteigen. Auf der Transsib-Strecke fährt schliesslich auch morgen wieder ein Zug Richtung Moskau.
Text Margit Kohl
DER TIPP DES SPEZIALISTEN | |
13 Millionenstädte, 11 Zeitzonen und fast 130 Völker – Russland beeindruckt mit Superlativen und Kontrasten. Einen interessanten Einblick in das grösste Land der Erde bietet das Miniatur-Museum «Grand Maket» in St. Petersburg. Liebevoll wird hier auf rund 800 m2 die Vielfalt Russlands im Kleinformat inszeniert. Wem die Hauptstadt Moskau in Miniatur nicht reicht und wer sie lieber original sieht, dem empfiehlt sich ein Abendessen oder ein Cocktail in der stilvollen «City Space Bar» auf 140 Metern Höhe. Hier liegt die prächtige Millionenmetropole den Besuchern zu Füssen – diesmal in echt. | Weitere Informationen: Osteuropa-Katalog von Travelhouse oder travelhouse.ch Tel. 058 569 95 03 Tipp von Philippe Matter, Osteuropa-Spezialist bei Travelhouse |