Wenn sich die Nordsee im Norden Deutschlands zurückzieht, gibt sie eine wundersam wilde Landschaft frei. Das Watt, diese Zwischenwelt, lässt sich am besten auf verschiedenen Wanderungen erkunden.
Zum Auftakt einen Tusch: Der fröhliche Klang einer Trompete hallt über den Strand von Büsum. Eine Treppe führt hinunter auf diese grossartige Bühne der Natur. Willkommen an der Nordsee. Willkommen im Unesco-Weltnaturerbe Wattenmeer. «Wir beginnen mit einem kräftigen Trompetentusch – dann weiss jeder: Es geht los!» Das sagt die Zeremonienmeisterin und weltweit erste, einzige Wattenpräsidentin Sylvia-Birgitt Zeidler. Das Kurorchester Büsum spielt auf, der Startschuss für das Wattenlaufen mit Musik in Richtung Flutsaum; Walzer, Jazz und Dixieland, das Orchester kann alles, gibt alles. Im Jahre 1900 hatte ein Hamburger Badegast die Idee, mit einer umherziehenden Strassenkapelle ins Watt zu laufen; Spass macht es noch heute.
Kinderstube vieler Fischarten
Am kommenden Tag treffen wir uns mit Jan, der das Watt da draussen kennt wie kaum ein Zweiter. Wir stehen auf dem Deich bei Büsum und gehen dem ablaufenden Wasser hinterher. Schlick quillt zwischen den Zehen. Nationalpark-Wattführer Johann-Peter «Jan» Franzen führt ins Watt, so wie seine Kollegen hier in Dithmarschen und oben in Nordfriesland – sicher, spannend und erlebnisreich. Es ist wie anderswo an der Küste des Wattenmeeres: Für jeden ist etwas dabei, je nach Kondition und Interesse, für Familien oder Abenteurer.
Franzen erklärt: «Es gibt drei Arten von Wattboden: Sandwatt, Schlickwatt und Mischwatt.» Eines ist ihnen allen gemein, auch wenn sie auf den ersten Blick öde und leer bis zum Horizont aussehen: «Das Watt gehört zu den produktivsten Lebensräumen der Erde.» Jan nimmt einen Spaten in die Hand. Robben und Seehunde möchte jeder sehen. Und die kleinen Stars auf dieser grossen Bühne? Die sind nicht minder interessant. «Das hier ist der Wattwurm, reicht ihn einmal rum.» Jan sucht eine Wattschnecke und Herzmuscheln. «Und das hier», der Guide zieht ein Netz durch einen Priel, «ist die Nordseegarnele – besser bekannt als Krabbe.» In den Prielen tummeln sich oft kleine Fische. «Das Wattenmeer ist unglaublich reich an Nährstoffen und die Kinderstube vieler Fischarten.»
Wüste im Watt
Es geht hinauf nach Nordfriesland, auf die Halbinsel Eiderstedt, in das ebenso coole wie traditionsreiche Seebad St. eter-Ording. Hier gibt es unglaubliche Strände – zwölf mal zwei Kilometer Sand –, auf denen man die Weite spüren kann. Ruhesuchende freuen sich über den Naturgenuss, Sportler toben sich beim Surfen oder mit dem Kite-Buggy aus. Typisch Nordsee: Auf der Terrasse einer der einzigartigen Pfahlbauten sitzen und bei einem guten Glas Wein und einem Krabbengericht Pläne schmieden. Wer denkt, hinter dem Deich ist Schluss, der irrt. Hinter dem Deich liegt eine andere Welt; die der Inseln, Sandbänke, der gewaltigen Gezeitenströme, das Watt. Eine Welt, in der die stetige Veränderung die einzige Konstante ist. Nördlich von St. eter-Ording führt der Weg hinauf auf den Landesschutzdeich. Davor liegt der wohl bekannteste Leuchtturm des Landes – Westerhever, ein wahrhaft schmuckes Stück.
Hier weisen Pfähle den Weg ins Watt. «Wenn man rund um Niedrigwasser hinausgeht und nicht gerade Sturm herrscht, ist man an der Pfahlreihe sicher. Entfernt man sich von ihr, sollte man wegen der Gefahr von Seenebel einen Kompass dabeihaben», sagt Rainer Schulz, Leiter der Schutzstation am Westerhever Leuchtturm. Das Ziel leuchtet in der Sonne; eine trockene Sandbank, gelegen auf dem Watt. «Ein normales Sommerhochwasser überflutet den Westerheversand kaum mehr», sagt Schulz. Leicht gewölbt wie ein Uhrglas erstreckt sich der Sand mehr als drei Kilometer lang und 200 Meter breit vor der Halbinsel Eiderstedt. «Auf diesem entlegenen Aussenposten brüten unter anderem Seeregenpfeifer und Zwergseeschwalben. Das sind ziemlich seltene Vögel», erzählt Schulz.
Etwas ganz anderes kann man hier draussen ebenfalls sehen und dabei mitunter an seinem Verstand zweifeln: Wenn der Westerheversand wie eine Wüste erscheint, dann gibt es auch die Fata Morgana dazu. Luftspiegelungen kommen im Wattenmeer häufig vor; Inseln scheinen zu schweben und Schiffe über den Sand zu fahren – flirrend, flimmernd, unbegreiflich. Im Norden schwebt seltsam verzerrt und ins Traumhafte aufgelöst eine Hallig. Ganz nah und doch unerreichbar von hier.
Flüsse im Meer
Um die einmalige, wundersame Welt der Inseln und Halligen zu erleben, geht es weiter nach Norden. Dort liegen inmitten riesiger Wattflächen und getrennt von teils gewaltigen Wattströmen drei weitere Top-Destinationen: Föhr, Amrum und Sylt. Hier kann man sogar von Insel zu Insel wandern: Dark Blome ist einer der Wattführer, die Gruppen von Amrum nach Föhr begleiten. An der Nordspitze Amrums türmen sich gewaltige Dünen auf, vor uns liegt das Wattenmeer. Sandbänke tauchen aus dem ablaufenden Wasser auf und schimmern wie Gold zwischen dem tiefen Blau der Priele. Es ist die Heimat der Seehunde und auch Kegelrobben kann man mit Glück beobachten. Im Nordosten liegt die Insel Föhr. «Den direkten Weg können wir nicht nehmen», sagt Blome, «unmittelbar vor Föhr liegt ein tiefer Priel, den wir auch bei tiefstem Niedrigwasser nicht passieren können.» Priele sind Flüsse auf dem Meeresboden, durch sie strömen bei Ebbe und Flut ungeheure Wassermassen. Auch wenn weite Flächen im Watt längst trockengefallen sind, können Priele unpassierbar sein. Auch vor Amrum liegt ein dicker Priel, den wir jetzt passieren müssen. Dark geht voran und testet die Tiefe. «Los geht’s! Die Nordsee wartet nicht!» Das Wasser reicht zwar nur bis zu den Knien, hat aber einen irritierend starken Zug.
Wir weichen Sandwällen aus, gehen durch Lagunen stillen, warmen Wassers, marschieren auf Sandhügel – eine wilde Welt aus zusammengeströmtem Sand. Man bedenke: Bald stehen hier wieder mehr als zwei Meter Wasser und das Schiff fährt nach Sylt.
Dann sehen wir Seehunde, die auf einer Sandbank liegen. Wir beobachten die Tiere mit dem Fernglas. Was für ein Moment! Weit draussen im Watt zu sein, unter dem hohen Himmel Nordfrieslands – in einer einzigartigen Landschaft, so weit, so wild und wunderbar. Wir geniessen ein Robinson-Gefühl irgendwo im Nirgendwo zwischen Amrum, Föhr und Sylt.
Zwischen Austernbänken
Das Wattenmeer zwischen Sylt und dem Festland glitzert in der Sonne und die Wanderdünen im Listland leuchten. Die Leute laufen ihre Gummistiefel ein. «Ohne Schuhe nehme ich auch im Sommer niemanden auf die Tour zu den Austernbänken», sagt Wattführerin Ute Pausch vom Erlebniszentrum Naturgewalten in List auf Sylt. Austernschalen sind hart und scharf wie Glasscherben.
Diese Tour erfolgt mit einer Sondergenehmigung, die Kulturflächen sind Privatgelände. «Da draussen werden Austern kultiviert, die Sylter Royal», sagt Pausch und führt die Gruppe ins Watt. Die Muscheln wachsen in Gittersäcken, die auf Eisentischen liegen. Wasser tropft herab, eine nach dem Meer riechende Kühle hat sich gehalten. Pausch erklärt: «Die Austern kommen in der Grösse von Zwei-Euro-Münzen auf die Kultur und leben dort, bis sie reif für die Ernte sind; gut faustgross. Dass sie zweimal am Tag für knapp zwei Stunden trockenfallen, schadet ihnen nicht, sie schliessen sich dann einfach fest zu.»
An der Niedrigwasserkante geht es zurück nach List. Zeit für lockeren Insel- und Wattenplausch. Im Frühjahr, wenn die Wattwanderungen zu den Austern beginnen, ist weiterer Besuch hier: «Das Wattenmeer ist die europäische Drehscheibe im Vogelzug schlechthin», erzählt Pausch. «Millionen von Vögeln machen hier Rast.» Riesige Schwärme von Knutts beispielsweise schwirren durch die Luft und lassen sich aufs Watt niederfallen wie himmlisches Konfetti. Und wenn der Goldregenpfeifer in seinem Prachtkleid im späten Licht vorüberfliegt, dann glitzert der Schwarm fast wie Gold. Ganz schön royales Gehabe.
Und das königliche Schalentier? Eben noch auf dem Meeresgrund, kommt es jetzt im Bistro Austernmeyer überbacken mit Pernodbutter auf den Tisch. Spätestens hier, ganz hoch oben im Norden von Deutschland und am Ende der Streifzüge durch eine einzigartige Naturlandschaft, hat man sich das auch wirklich verdient.
Von Oliver Abraham, Bild: Oliver Franke