Auch in wirtschaftlich turbulenten Zeiten zieht Griechenland seine Besucher in den Bann wie eh und je. Ernesto Scagnet ist einer von vielen, die regelmässig wiederkommen. hier ist seine kurze Anleitung zum Reisen auf dem Wasser.
Sie hiess Aikaterini. Ihr Leib war breit, behaglich und betagt. Sie roch nach Teer, Diesel und Ferne, nach Fisch, Olivenöl, Tabak und Traum. Ihr Bauch war dunkel und lärmig, ihr Hintern schwankte gelassen und unverschämt. Mit ihr habe ich die Zärtlichkeit der Ägäis erfahren, vor vielen Jahren, zum ersten Mal. Jetzt werde ich ihr nicht mehr auf die Reling klopfen können, und sie wird längst keinen Schaumschleier mehr hinter sich herziehen, stolz wie ein altes Mädchen, das es doch noch geschafft hat, unter die Haube zu kommen; sie werden sie längst verschrottet haben mit all ihren Erinnerungen.
Der Zauber der Griechen
Ich war ein unglaubliches Greenhorn und hatte Deckpassage gebucht für die Fahrt von Piräus nach Kos. Essen hatte ich keines mitgenommen, Wasser auch nicht. Die «Aikaterini», die «Katharina», fuhr mittags los. Die Sonne brannte, Schatten gab es nicht, Wasser gab es nicht, und Essen konnte man nicht kaufen. Erst um acht Uhr abends öffnete der Koch die Kombüse, und ich stellte mich halbverhungert an. Da wurde ich von freundlichen Händen gepackt und ganz nach vorn geschoben. «Erst du!» rief einer. Der Gast zuerst. Es waren alles Griechen in dem Raum. Der Koch war dick und verschwitzt und wuchtete grinsend einen gewaltigen Schlag Teigwaren auf meinen Teller. Jemand drückte mir ein Glas Retsina in die Hand. «Jammas!», zum Wohl, riefen sie alle. Erschöpft und gerührt hob ich das Glas und schaute in die lächelnden Gesichter. Ich liebte sie. Ich liebte die Aikaterini. Ich liebte die Ägäis. Ich liebte diese schrecklichen Teigwaren. Ich liebte die Russflocken, die mir unter dem Sternenhimmel das Gesicht schwärzten, denn die Nacht war kühl, und ich hatte mich beim warmen Kamin ausgestreckt. Ich liebte die Holzplanken, die meinen Rücken und meine Hüften folterten. Ich war jung und hingerissen und hatte auf diesem Schiff alles gefunden, wovon ich träumte.
Es war das Abenteuer. Es war die wunderbare, nie erfüllbare Sehnsucht. Ich war kein Tourist. Ich war Odysseus. Ich war Sindbad, Bartolomeu Dias, Vasco da Gama, Cabral, Vespucci, Colombo. Ich war Captain Cook. Ich war einer, der unterwegs ist zwischen Meer und Himmel zu einem Ziel, das er nicht kennt, müde, schmutzig, mit schmerzenden Gliedern. Oh, ich war der erste Mensch, der auf diesem Wasser fuhr, und es war der jungfräulichste Wind, der mir ins Gesicht blies. Ich war dabei, einen Teil der Welt zu entdecken.
Seither bin ich immer wieder nach Griechenland gefahren, und natürlich hat sich meine Sicht der Dinge verändert. Ich hab mich ein paar Mal kräftig übers Ohr hauen und danach zu einem Glas Wein einladen lassen und eines Tages staunend festgestellt, dass ich nie einen dummen und kaum einen betrunkenen Griechen getroffen hatte; berauscht ja, betrunken nicht. Ich habe gesehen, wie Touristen das Land überfluteten und fleissig an seinen Schätzen nagten, Aussteiger, Familien, Senioren oder elende Romantiker wie ich. Ich habe gesehen, wie sich die Dörfer veränderten, wie ausserhalb der kleinen Städte Hotelsiedlungen aus dem Boden schossen, wie sich die Sitten wandelten; wie die Alten am Hergebrachten festhalten mit der unheimlichen Macht des griechischen Familienverbandes, und wie arbeitslose Jugendliche und Studenten ohne Studienplätze trotzdem ihren eigenen Weg gehen wollen; wie die Preise kletterten, wie die meisten Griechen sich noch immer einen Teufel um die Umwelt scheren und wie das alles die Kraft und den Zauber des Landes nicht wirklich hat brechen können.
Die Zeit auf dem Wasser
Ich benutze die Fähre, so oft es geht. Es soll dauern. Wenn immer möglich werde ich nie auf eines dieser schnellen Schiffe klettern, die in zwanzig Stunden von Ancona nach Patras preschen. Dabei gewinne ich nichts. Ich verliere sechzehn Stunden; um so viel länger dauert gewöhnlich die Überfahrt. Ich steige in Venedig zu, um noch ein wenig mehr Zeit auf dem Wasser herauszuschinden; ich fahre langsam, behutsam am Canal Grande vorbei aus dem Lagunensystem und sehe die bröckelnde Stadt im goldenen Licht des Abends wie ein Gemälde von Tintoretto und den bestialischen Rauch von Mestre wie einen freundlichen Vorhang. Dann stelle ich mich an den Bug und starre ins Meer und sehe, wie das Wasser fliesst und fliesst, und es ist, als würde es durch mich hindurchfliessen, so, wie es das zu Hause schon immer getan hat, wenn ich mich auf der Holzbrücke über den Bug des steinernen Pfeilers stelle und warte, bis die Brücke flussaufwärts fliesst, nach Süden. Der Wind bläst durch Kleider und Haar, und ich stehe so lange da, bis ich vollkommen durchgeblasen, durchflossen, durchfroren bin. Es ist wie ein Ritus. Dann erst ist die Zeit auf dem Land überwunden und die Zeit auf dem Wasser hat begonnen. Denn die Zeit auf dem Wasser ist anders; es ist eine Zeit der Langsamkeit, ein Stück ununterbrochener Zeit, und, wenn man Glück hat, eine Zeit der verhältnismässigen Ruhe, Luxusgüter, wirklicher Reichtum.
Ja, das ist eine Anleitung zum Reisen auf dem Wasser. Man muss ein bisschen philosophisch sein, ein bisschen romantisch, ein wenig von gestern; oder vielleicht gehört man zur Avantgarde, wenn man sich Gemächlichkeit leistet. Eine Warnung ist es auch: man hat nicht immer Glück. Einmal erwachte ich mitten in der Nacht und sah, wie meine Hose am Haken beinahe waagrecht in der Luft stand, sich langsam senkte und wieder hob und wieder senkte. Ein Sturm hatte das Schiff gepackt und schleuderte es von Wellental zu Wellental. Ich kroch an Deck; die Passagiere flogen durcheinander und die Matrosen standen rauchend und amüsiert, als wären sie festgemacht an den glitschigen, schwankenden Planken. Ich stolperte auf das oberste Deck, ich wollte allein sein in meinem Elend und opferte wie alle andern Poseidon, bis ich nicht mehr konnte, und trotzdem sah ich, was für eine wundervolle Nacht es war: die hohen Wellen mit den Schaumkronen, die wirbelnden Gischtvorhänge, die funkelnden Sterne, der volle Mond, ein prächtiges Bühnenbild für ein tragikomisches Schauspiel. Doch die Fahrt im Sturm dauerte vierzehn Stunden. Auch dieses Schiff war alt und ziemlich klein, und ich verfluchte zum ersten Mal die ununterbrochene Zeit.
Ein andermal flüchtete ich wieder aufs Oberdeck. Es war Herbst, und ein anderer Sturm war ausgebrochen: italienische und griechische Senioren hatten die Fähre in Besitz genommen, die Frauen voran auf der Suche nach dem besten Platz, dai, dai, Silvano, dai! Ihre Handtaschen schwangen sie so bedrohlich, dass sie dafür vielleicht einen Waffenschein benötigten, und wehe dem, der sich an den Tisch zu setzen wagte, den sie ansteuerten. Sie redeten, lachten und schrien mit erstaunlicher Ausdauer. Es war nichts mit der Ruhe. Dafür spielten sie ihren Part im uralten Schiffstheater mit Hingabe.
Es gab den mit dem Feldstecher. Besorgt, es könnte ihm etwas entgehen, wanderte er pausenlos hin und her, blickte zum Himmel, starrte aufs Meer, sah nicht, was nah war, suchte die Nähe, die er brauchte, in der Ferne. Es gab den Junggebliebenen in knapper Badehose, durchtrainiert, verliebt in die eigenen Bauchmuskeln, stand da wie auf dem Laufsteg, keiner gab ihm seine Jahre; nur er selber litt erbärmlich unter dem Älterwerden. Es gab die Sonnenanbeterin mit dem knautschledernen Teint. Es gab die Handysüchtigen, die mitten auf der Adria immer wieder versuchten, ans Netz zu kommen. Es gab die Glücklichen, denen es genügte, unterwegs zu sein zwischen Wind, Himmel und Meer; sie sassen am Heck und betrachteten die breite weisse Strasse aus Schaum, die das Schiff durch das blaugrüne Wasser zog. Es gab das Paar; allein und liebessüchtig stand es im Sonnenuntergang, als i signori passeggeri beim Nachtessen waren, so lange, bis der Mond aufging über den albanischen Bergen.
Die Aikaterinis von heute
Dieses Schiff war neu. Es war eine dieser schwimmenden weissen Hotelanlagen mit Swimmingpool, Bars, Kino, Kasino, Nightclub, Konferenzräumen, Spielplätzen, Restaurants, Dutyfreeshops, Kabinen und Sälen mit Schlafsesseln für bis zu 1600 Passagiere und einem riesigen Bauch, in dem 600 Personenwagen und Dutzende von Lastwagen Platz finden. Sie heissen Blue Horizon, Blue Sky, Blue Island, Blue Galaxy; Super Fast 1 bis 6, Highspeed 1 bis 4, Flying Cat, Flying Dolphin. Manchmal, aber immer seltener, heissen sie auch Ikarus, Daedalus oder Erotokritos. Das ist nicht wichtig. Der Golf von Venedig, das Adriatische Meer, die Strasse von Otranto, das Ionische Meer, die Ägäis sind zwar weniger sauber, weniger fischreich und weniger einsam als in den Tagen von Odysseus oder der Ptolemäer, die den ganzen Mittelmeerraum beherrschten, oder zur Zeit der griechischen Kolonien in Unteritalien, Sizilien und Marsilia, dem heutigen Marseille, als die Kriegs- und Handelsschiffe zwischen Griechenland und den eroberten Gebie ten kreuzten, und vielleicht sogar, seit die «Aikaterini» ihren runden Bauch über die Ägäis schob. An dem, was eine Schiffsreise ausmacht, hat sich nichts geändert.
Noch immer gibt es die Illusion von Freiheit, diese Spanne zwischen dem Ablegen vom festen Land und dem Anlegen an irgendeinem Ziel, das Wissen, abgefahren und noch nicht angekommen zu sein, losgelöst, befreit. Es gibt die Freude des Abschieds und die Wehmut der Ankunft; es gibt das Staunen über die Weite von Meer und Himmel, auch auf einem mit Elektronik vollgepackten Schiff, in dessen Salon die Abendnachrichten über den Bildschirm flimmern, verzerrt und kaum verständlich, als wäre die Zeit auf dem Wasser Schonzeit.
Und es ist nicht wahr, dass es auf den Landkarten keine weissen Flecken mehr gibt. Auf meiner Landkarte ist noch vieles unentdeckt. Es liegt hinter dem nächsten Küstenstreifen, hinter dem nächsten Hügel, in der nächsten Stadt. Es wird mir auf einer Schiffsreise begegnen, ich werde es aufstöbern zwischen Venedig und Patras, zwischen Piräus und Heraklion. Ich werde es finden, weil ich ahne, wonach ich suche. So ist es immer. Das hat mich die Aikaterini gelehrt: man wird auf seiner Reise nicht finden, was man sucht, wenn man es nicht mit sich trägt. Danke, altes Mädchen. Es ist die vollkommene Art zu reisen.
Von Ernesto Scagnet