Im kanadischen Alberta haben Langläufer die Winterwunderwelt der Rocky Mountains noch fast ganz für sich allein.
Wenn doch all die Bären dieses Panorama einmal sehen könnten! Wie erhaben der blendend weisse Mount Fairview hinter dem verschneiten Wald aufragt. Wie die im Pulverschnee versunkenen Fichten in der Wintersonne funkeln und die im Frühjahr rauschenden Gebirgsbäche zu stillen, glitzernden Eiskunstwerken erstarrt sind. Die schönsten Aussichten auf den Banff Nationalpark verschlafen die Grizzlys und Schwarzbären oft komplett. In der kalten Jahreszeit halten die wohl bekanntesten Bewohner der kanadischen Rocky Mountains Winterruhe. «Um als Langläufer auf einen Grizzly zu treffen, muss man schon ein echter Pechvogel sein», sagt Randy Fagan. Der Ski-Guide steht vor einem gefrorenen Wasserfall und lässt den Blick über die majestätische Gebirgskette hinter dem Lake Louise wandern. «Dafür kann man aber im Schnee die Spuren anderer Räuber entdecken», ergänzt der 46-jährige Sportler. Durch die kanadischen Rocky Mountains streifen noch immer Wölfe, Luchse und Pumas. Wer mit Fagan auf den Langlaufpisten des Nationalparks den Winterwald erkundet, stösst bisweilen auf ihre Fährten im Neuschnee. Je weiter man auf Skiern ins Innere des Unesco-Welterbes im Westen der Provinz Alberta vorstösst, umso dichter rückt der verschneite Zauberwald an die Piste heran und hat einen bald ganz verschluckt.
Auf Langlaufskiern dem Rummel entfliehen
Der Banff-Nationalpark ist der älteste und meistbesuchte Nationalpark Kanadas. Mehr als vier Millionen Gäste verzeichneten die Verantwortlichen im vergangenen Jahr. Der ungeheure Besucherstrom stellt Naturschützer und die Parkverwaltung vor gewaltige Herausforderungen. Im Hochsommer drängen sich auf den Busparkplätzen und Aussichtspunkten Reisegruppen aus aller Welt. Selbst auf entlegeneren Wanderwegen herrscht dann Hochbetrieb. Im Winter bevölkern in- und ausländische Gäste die Abfahrtspisten der Skigebiete. Sie gehören zu den beliebtesten Kanadas. Die Lifte von Lake Louise oder des bis zu 2770 Meter hoch gelegenen Sunshine Village sind von November bis Mai geöffnet. Dann sind hier im Nationalpark Après-Ski-Partys statt stiller Winterzauber angesagt. Anders als auf den Pisten gibt es auf den Langlaufloipen aber nie einen Massenansturm. «Als Langläufer kann man dem ganzen Rummel entfliehen», erzählt Fagan. Seit vielen Jahren begleitet er Besucher durch seine Heimat. Im Sommer führt er Wander- und Klettergruppen, im Winter bringt er Skillangläufer zu den schönsten Loipen im Nationalpark, aber auch in die weniger bekannten Gegenden im Umland, wie dem Yoho-Nationalpark jenseits der Grenze zu British Columbia und dem Peter Lougheedund Spray-Valley-Naturpark. Das wilde Bergpanorama von Kananaskis Country war bereits Kulisse für grosses Kino. Hier wurden Teile von «Brokeback Mountain» und «The Revenant» gedreht.
Naturliebhaber haben in Kananaskis die Winterwunderwelt der Rocky Mountains ganz für sich allein. Wer es abenteuerlich mag, kann sich hier auch eine eigene Route von Hütte zu Hütte zusammenstellen, die von den Kanadiern Backcountry Huts genannt werden. Einige der Unterkünfte sind im Winter nur auf Skiern erreichbar.
Ein Berg wie eine Pyramide
Auf dem Bryant Creek Trail im Spray Valley umgibt den einsamen Langläufer eine schneeflockenumsäuselte Stille. Etwa eineinhalb Stunden südlich von Banff trifft man hier – wenn überhaupt – nur auf wenige gleichgesinnte Skifans, denen die Natur allein für den perfekten Winterausflug genügt. Am Pistenrand warnen Schilder vor Bären. Im Sommer sollten sich Wanderer hier in Acht nehmen. Der winterliche Besucher kann die Hinweise jedoch getrost ignorieren. Bestenfalls wird ihm hier ein Kojote oder ein Elch begegnen. An diesem Wintermorgen ist es aber ganz still im Bergwald. Hin und wieder ist von weitem das leise Glucksen von Tannenhühnern zu vernehmen. Sonst nichts als das Flüstern von Schnee, der von überladenen Zweigen fällt, und das Knirschen der Skier.
Fast lautlos plätschert der dunkle Bryant Creek vorbei an filigranen Eis- und Schneeinseln, dem alles überragenden Cone Mountain entgegen. Der hochherrschaftliche Berg sieht von hier wie eine Pyramide aus, an der ein riesiger Grizzly seine mächtigen Pranken gewetzt hat. Eine einsame Büffelkopfente zieht im noch eisfreien Bach ihre Kreise. Aus den Wipfeln am Ufer grüsst sie ein Schwarm Seidenschwänze. Wie das Entlein sind die hübschen Singvögel mit der spitzen Federhaube nur vorübergehend hier, sie kommen aus dem hohen Norden. Im Frühjahr kehren sie zum Brüten in die Taiga zurück. Die Loipe führt immer weiter in die Waldeinsamkeit zum feierlich stillen Watridge Lake. Sein im Sommer türkisblaues Wasser hat sich längst in eine blendend weisse Schneefläche verwandelt. Noch eindrucksvoller ist der lang gestreckte Marvel Lake mit dem matterhorngleichen Mount Assiniboine als Wächter. Irgendwann verliert sich die Skispur im Neuschnee und der Entdecker muss sich seinen eigenen Weg durch die Wildnis bahnen.
Wölfe und Grizzlys kämpfen um Beute
Wer von der Weltabgeschiedenheit nicht genug haben kann, mietet sich eine Nacht in der Schutzhütte von Bryant Creek ein oder schlägt sich über den Wonder-Pass nach British Columbia durch. Weniger Abenteuerlustige nehmen mit der urgemütlichen Mount Engadine Lodge vorlieb. Hier kann man sich nach einer anstregenden Skitour nicht nur am Kaminfeuer wärmen, sondern wird auch fürstlich bekocht. Von der Terrasse blickt man auf ein Gebirgstal mit einer Kette von Dreitausendern als Rückgrat. «Fast jede Nacht haben wir hier Elche zu Besuch», verrät Lodge-Mitarbeiter Nick Kostiuk. «Im Herbst konnten wir sogar ein Rudel Wölfe beobachten, das mit einem Grizzly um seine Beute kämpfte.» Angst vor den Räubern vor seiner Tür hat der 25-Jährige nicht. «Ich habe vor einem ausgewachsenen Elch sehr viel mehr Respekt.» Wenn bei Nacht Wolfsgeheul von den umliegenden Berghängen tönt, kriecht ein unheimlicher Schauer unter die wohlig warme Bettdecke. Stammt das Knacken, das draussen gerade zu vernehmen war, vielleicht von einem Elchbullen oder gar einem Puma? Morgen in aller Frühe werden es die Spuren verraten. Dann steht ein neues Skiabenteuer an. Wie tröstlich, dass wenigstens alle Grizzlys schlafen.
Text Winfried Schumacher
Bild: Banff & Lake Louise Tourism/Noel Hendrickson
Gut zu Wissen
Anreise: Edelweiss fliegt von Mai bis September zweimal wöchentlich von Zürich nonstop nach Calgary. www.flyedelweiss.com
Unterkünfte: Die urgemütliche Skoki-Lodge inmitten des Banff-Nationalparks liegt auf 2164 Meter Höhe und ist im Winter nur auf Skiern zu erreichen. In der weltabgeschiedenen Mount Engadine Lodge im wilden Kananaskis Country geniessen Gäste eine atemberaubende Bergkulisse. Von hier aus lassen sich zahlreiche Langlauftouren unternehmen.