Im letzten Himalaya-Königreich Bhutan lebt eine uralte Glaubenswelt fort. Wer aber denkt, im Land des Donnerdrachens stehe die Zeit still, der muss sich eines Besseren belehren lassen.
Der Pilgerpfad zum Lungchu-Tsey-Kloster führt durch einen stillen Zauberwald. Im Frühling blühen hier die baumhohen Rhododendren am Wegrand in sattem Violett. Jetzt im Winter recken sich ihre knorrigen Äste jedoch wie kahle Geisterarme in den Nebel. Die Flechten an den Zweigen sind zu bleichen Greisenbärten erstarrt. Müde flattern die von Raureif überzogenen Gebetsfähnchen am Wegrand. Oben in den Wolken thront das kleine Kloster auf dem Bergrücken wie eine Kulisse für einen Märchenfilm. Wenn es nicht in Nebel gehüllt ist, blickt man von hier aus auf die ewig weissen Gipfel der Siebentausender an der Grenze zu Tibet mit dem 7570 Meter hohen Gangkhar Puensum. Er ist der höchste unbestiegene Berg der Welt und wird dies hoffentlich auch noch lange bleiben. 1994 erliess Bhutan nämlich ein Gesetz, dass alle Berge über 6000 Meter aus Respekt vor ihrer spirituellen Bedeutung für die Einheimischen nicht bestiegen werden dürfen. Seither gehören die eisigen Bergspitzen Bhuthans den Göttern allein.
«So sieht es an klaren Tagen aus», sagt ein Mönch und zeigt ein Panoramafoto auf seinem neuen Smartphone. Der 39-jährige Gyeltshen hat gerade seine Meditation abgeschlossen und nun Zeit für ein Videospiel. Von der Decke des Heiligtums blickt ein goldener Drache grimmig auf das Display. In den Wänden tummeln sich bunte pferdeköpfige und totenkopfgekrönte Gottheiten neben Elefanten, Affen und Hasen – nicht weniger schrill als die Helden eines Computerspiels. Pilger haben Früchte und Gemüse als Opfergaben vor einer Statue des Guru Rinpoche niedergelegt. Der Begründer des tibetischen Buddhismus soll seine Lehren im 8. Jahrhundert nach Bhutan gebracht haben.
Meditieren und chatten
«Hier oben ist der Handyempfang besser als auf meinem Zimmer», sagt der Mönch. «So kann ich nach dem Meditieren mit meiner Familie chatten.» Nur einmal im Jahr kommt seine Mutter aus Paro im Westen Bhutans zu Besuch. «Per Videochat sehen wir uns aber regelmässig. Ich bin gar nicht so abgeschnitten von der Welt.» In Druk Yul, dem Land des Donnerdrachens, so der Staatsname Bhutans in der Landessprache, steht die Zeit nicht still. Seit wenigen Jahrzehnten öffnet sich das Land vorsichtig westlichen Einflüssen, technischen Neuheiten und dem Tourismus. Erst 1999 wurde der Fernseher eingeführt. Heute haben auch entlegene Bergdörfer einen Internetanschluss. Westliche Reisende pilgern in immer grösserer Zahl in das kleine Land. Etliche von ihnen sind auf der Suche nach einer weltabgeschiedenen Glaubenswelt, die für sie anderswo längst verloren scheint.
Der Mönch Gyeltshen wurde mit neun Jahren von seinen Eltern auf eine Klosterschule geschickt. Viele Bauernfamilien geben ihre Kinder in die Obhut von Mönchen, um ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen. Gyeltshen war sechs Jahre im berühmten Kloster Taktshang. Die auch als Tigernest bekannte Anlage liegt auf einem Felsvorsprung über dem Paro-Tal. Heute ist sie eine der meistbesuchten Touristenattraktionen. Anders als in Ländern wie Thailand oder Sri Lanka, wo historisch bedeutsame Tempel, Pagoden und Klöster längst Ziele des Massentourismus sind, erleben Reisende in Bhutan aber ein Land, das sich seit der Zeit, als tibetische Mönche in den entlegensten Tälern missionierten, scheinbar nur wenig verändert hat.
Offen gegenüber anderen Religionen
Der Vajrayana-Buddhismus ist Staatsreligion. Seit 2008 herrscht jedoch offiziell Religionsfreiheit. 2015 wurde auch der Hinduismus, dem etwa ein Viertel der Bevölkerung angehört, als nationale Religion anerkannt. Der regierende König Jigme Khesar Namgyel Wangchuk besuchte im selben Jahr das Dashain, das wichtigste Fest der Hindus in Bhutan. Unter der Regentschaft seines Vaters wurden noch etwa 100 000 Lotshampas, Bhutaner nepalesischer Herkunft und grösstenteils Hindus, aus dem Land vertrieben. Seither sind Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten seltener geworden.
Die buddhistischen Klöster spielen aber noch immer eine wichtige Rolle im Alltag der Menschen. Eines der bedeutendsten des Landes ist das Gangteng Gonpa im Phobjikha-Tal. In seinem Innenhof wird jedes Jahr mit Schulkindern das Kranichfest gefeiert, wenn die als Himmelsboten verehrten Vögel aus Tibet zurückkehren. Ebenfalls gefeiert wird gerade im nicht weit entfernten Damcheng-Lhakhang-Kloster. Zur Einweihung eines neuen Wohnheims für die Mönche sind alle Bewohner des Tals eingeladen. Die Gäste tragen ihre traditionellen Gho- und Kera-Trachten in leuchtenden Violett-, Orange- und Rottönen. Vor dem Kloster drängen sich die Menschen. Sie warten auf den Segen des Damchen Lhakhang Trulku, des Abts der Klosterschule. Dumpfes Trommelschlagen und das Gemurmel von Gebeten erfüllen das Zelt. Aus einer mit einem Buddha-Abbild verzierten rituellen Kanne giesst der Trulku den Gläubigen schliesslich geweihtes Wasser in die Hände. Auch ein Ausländer empfängt den Segen. Ein Staatsanwalt aus New York ist einer der Hauptspender des neuen Wohnheims.
«Wie ein Zwang zur Erfüllung»
«Das Schicksal hat uns bestimmt», sagt der Trulku. Vor seiner Zeit als Klostervorsteher arbeitete er als Nachrichtenredakteur für das staatliche Fernsehen. Durch einen Unfall wurde er sich seiner neuen Bestimmung bewusst. «Es ist hart für einen Neueinsteiger, aber wie ein Zwang zur Erfüllung.» Nun unterrichtet er etwa zwanzig Mönche im Alter von 12 bis 24 Jahren im Buddhismus, aber auch in Englisch, Musik, Malerei und Kunsthandwerk – und darüber, seine Bestimmung im Leben zu finden. Nachrichten verfasst er indes noch immer. Auf der Facebook-Seite des Klosters berichtet er über Pilgerausflüge, dankt Spendern und verschickt Ehrerbietungen an den König.
Am Abend nach dem Fest kehrt Stille ein im Tal. Nur der Ruf der Kraniche ist ab und zu aus der Ferne zu vernehmen und das Murmeln eines Bergbachs, der das alternde Rad einer Gebetsmühle dreht. Fast schon Welten entfernt scheint da das Städtchen Paro im Westen des Landes. Mit etwa 15 000 Einwohnern mag es den Touristen als grösseres Dorf erscheinen. Für die Einheimischen jedoch ist die drittgrösste Stadt des Landes ihr Tor zur Welt. Wer am späten Abend im Park 76 Pub, der einzigen wirklichen Bar der Stadt, vorbeischaut, wird Touristen und Einheimische gleichermassen am Craft Beer oder Gin Tonic nippend treffen. Manchmal rocken Musiker mit Elektrogitarren auf der kleinen Bühne. Heute flimmert ein Open-Air-Konzert von AC/DC über die Video-Leinwand. Singen die noch? Mal googeln. «Sorry, no Wifi! Talk to each other. Pretend it’s 1991» steht in dicker Kreideschrift an einer Wand geschrieben. Hatte das so ähnlich nicht auch der Mönch aus dem Bergkloster gesagt? Oder war es der Trulku aus dem Phobjikha-Tal?
Text Winfried Schumacher
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Gut zu Wissen
Unterkünfte: Schon die einzigartige Weitsicht auf das friedliche Phobjikha-Tal macht die Gangtey-Lodge zu einer besonderen Unterkunft. Ihre Gäste haben auch die Möglichkeit, an von Mönchen geleiteten Meditationen und den Morgen- und Abendgebeten der nahen Klosterschule teilzunehmen. In Ausflugsnähe zum berühmten Taktshang-Kloster liegt das Como Uma abgeschieden auf einem bewaldeten Hügel über dem Paro-Tal. Im Stil der alten bhutanesischen Königspaläste vereint das Taj Tashi Thimphu traditionelle Gastfreundschaft mit royalem Komfort.