Der Musiker Christian Gibbs ist in San Diego aufgewachsen. Die Stadt, Heimat der Surfkultur und von Künstlern wie Tom Waits oder Eddie Vedder, pflege einen zeitlosen Hedonismus, erzählt er.
Ich bin mit Mitte zwanzig nach New York umgezogen, besuche meine Heimatstadt aber oft. Auch wer nicht aus San Diego stammt, fühlt sich hier schnell wie daheim. Die weite blaue Bucht heisst Besucher sofort willkommen. Schon beim Verlassen des Flughafens, wo Charles Lindbergh im Jahr 1927 den ersten Transatlantikflug startete, spürt und riecht man die salzige Brise des Pazifischen Ozeans.
San Diego ist die achtgrösste Stadt der USA, grenzt unmittelbar an die mexikanische Millionenstadt Tijuana und bietet ein paar der schönsten Strände Amerikas. Dank des milden Klimas mit durchschnittlich 21 Grad Celsius kann man das ganze Jahr über surfen. Ein perfekter Tag besteht beispielsweise aus einem ausgedehnten Surf neben nackten Badegästen am Blacks Beach, gefolgt von einem Drink im Hotel Del Coronado. Abends trifft man sich in Restaurants zu fantastischem mexikanischen Essen, später in Clubs mit einer tollen Musikszene – Stars wie Tom Waits, Rocket from the Crypt, Jewel oder Eddie Vedder kommen aus San Diego. Wer mag, kann dann noch weiter mit dem Trolley, der Strassenbahn, über die Grenze nach Mexiko zum Schlummertrunk.
Als Teenager surfte ich jeweils bei den «Tourmalines» südlich von La Jolla, wo der berühmte Schriftsteller Dr. Seuss lebte. Nachts trat ich in Tijuana in der Revolución Ave in einem Rockclub auf. Zum Sonnenaufgang sassen wir wieder am Strand bei Roberto’s «Rolled Tacos» – frittierten Tortillas mit Rindshackfleisch, Guacamole und Cotija-Käse. Alleine dieses Grundnahrungsmittel aller Surfer in San Diego ist eine Reise wert!
Der «Geburtsort Kaliforniens»?
Wenn heute von einer «nationalen Krise» an der südlichen US-Grenze gesprochen wird, tauchen in meiner Erinnerung die «Tijuana Sloughs» am Imperial Beach auf. Das Sumpfgebiet zwischen Kalifornien und Mexiko ist ein Naturschutzgebiet. An der Flussmündung entstanden an guten Tagen tolle Surfwellen. Die Wirbel lockten gelegentlich aber auch Haie an. Die «Sloughs» dienten Migranten dennoch als Möglichkeit, an der Grenzpatrouille vorbeizukommen.
Ureinwohner – Kumeyaay genannt – schwammen und jagten hier schon um 9000 vor Christus. Als eine der ersten Städte an der Westküste, in der sich im 18. Jahrhundert Europäer ansiedelten, wird San Diego manchmal als «Geburtsort Kaliforniens» bezeichnet, obwohl die Gegend schon viel früher bewohnt war. Nach dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg wurde die Stadt 1848 offiziell Teil der USA, da die Bucht strategisch wichtig war. Als Amerika 1917 in den Ersten Weltkrieg eintrat, führte die starke Präsenz der Marine zu einem Bevölkerungs- und Wirtschaftsaufschwung. Der Einfluss der Marine – die Bucht von San Diego beherbergt den viertgrössten Marinestützpunkt der USA – prägt die konservativen Ansichten vieler Einwohner bis heute. Viele sind selbst Veteranen. Auch mein Vater war in der Marine – wir führen jeweils interessante Diskussionen, wenn ich an Familienfeiern mit meinen liberalen New-York-City-Ideen daherkomme.
Es gibt aber auch grössere Enklaven, die von einem liberalen Geist geprägt sind, wie etwa das weltoffene Hillcrest oder South und North Park, wo die Strassen neben Palmen auch noch von «Tante-Emma-Läden» mit Schallplatten, Büchern oder Kleidern gesäumt sind.
Das Epizentrum der Strandkultur
In der Innenstadt lockt das «Gaslamp Quarter» voller Bars und Restaurants. Elektroroller stehen hier kostenlos zur Verfügung, sie werden von Einheimischen wie von Touristen rege benutzt. Die riesige Grünfläche im Herzen der Stadt heisst Balboa Park. Meine Eltern haben hier geheiratet, aber sehenswert ist der Park mit seinen Museen und Gärten ohnehin. Im Old Globe Theatre kann man Shakespeare unter den Sternen geniessen.
Ein Muss in San Diego ist auch ein Besuch am Mission Beach, dem Epizentrum der Strandkultur. Auf dem berühmten Boardwalk tummeln sich Strandgänger auf Fahrrädern oder Rollschuhen, spärlich bekleidete Jogger und Sonnenliebhaber aller Art. Ein kurzer Spaziergang über den Mission Boulevard führt zu einem ruhigeren Weg entlang der Bucht, wo man Paddelbretter mieten oder auf einem alten Dampfboot mitfahren kann.
Den perfekten Abschluss eines Besuches hat man im nördlichen Stadtteil Encinitas, wo die Surfer immer noch aussehen als wäre es 1970. Wer richtig plant, steht zum Sonnenuntergang am Moonlight State Beach, während einem «Handel’s hausgemachte Eiscreme» auf die Finger tropft und an Lagerfeuern fröhlich die müde Sonne auf die Reise in die Nacht geschickt wird.
Text Christian Gibbs, übersetzt von Roman Elsener
Bild CourtesySanDiego.org
Der Autor
Christian Gibbs, Singer/Songwriter
Christian Gibbs ist in San Diego aufgewachsen und wohnt heute in New York. In seiner Musik verbindet er die kalifornische Weite mit poetisch-intellektuellem New Wave in der Tradition von New Yorker Bands wie Television. Mit seinen diversen Projekten – unter anderen C. Gibbs, The Morning Glories, Lucinda Black Bear oder He Arrived By Helicopter – ist er seit über 25 Jahren international unterwegs, regelmässig auch in der Schweiz.