Norwegen ist im Herbst 2019 Gastland auf der Frankfurter Buchmesse und beweist, dass es Reisenden auch andere Facetten zu bieten hat als sagenhafte Natur und eindrückliche Landschaften.
Wenn Torkil Damhaug Stunden über seinem neuen Buch gesessen ist, wenn er komplexe Charaktere herauskristallisiert, an Sätzen gefeilt und richtige Wörter gesucht hat, geht er in den Wald. Jeden Tag. Jetzt im Winter steigt er auf die Langlaufski und lässt sich für ein, zwei Stunden von der Natur und der Ruhe verschlucken. Damhaug wohnt in einem Aussenbezirk von Oslo, die Bäume sieht er von seinem Arbeitszimmer aus. Die Natur ist nie weit weg in Norwegen und die Norweger sind ein Outdoor-Volk.
Damhaug ist erfolgreicher Krimiautor. Vier seiner Bücher sind bereits auf Deutsch erschienen, im Herbst kommt das fünfte, «Der Kreis aller Sünden». Psychologisch spannende Erzählungen, gruselige Morde, einsame Landstriche: Nichts für schwache Nerven. «Mich interessieren die Strömungen und Spannungen, die in Ländern wie Norwegen unter der friedlichen Oberfläche brodeln.» Damhaug kennt die menschlichen Abgründe. Er hat als Psychiater auf den Lofoten in Nordnorwegen gearbeitet, jener schönen Inselgruppe, auf der die Berge dramatisch ins Meer fallen und die Sonne im Winter für lange Zeit nicht mehr richtig aufgeht. Die Natur spielt eine prägnante Rolle in seinen Büchern. «Sie ist ein Hauptdarsteller», sagt er. Damit steht Damhaug gleich für zwei Strömungen, die gegenwärtig in der norwegischen Literatur zu beobachten sind. Erstens der weltweite Erfolg von Krimis aus Skandinavien und zweitens die starke Auseinandersetzung mit der Landschaft.
Spektakuläre Naturbühne für Kultur
«Wir haben sehr gute Krimiautoren zurzeit, und die Natur ist für Norweger nicht aus dem Leben wegzudenken», erklärt Andrine Pollen. Die Literaturexpertin koordiniert dieses Jahr das literarische Programm von Norwegen an der Buchmesse in Frankfurt. Norwegen wird das Gastland sein, es ist das grösste Kulturexport-Projekt in der norwegischen Geschichte. «2018 und 2019 werden rund 250 Bücher aus Norwegen auf Deutsch erscheinen. Nicht nur Krimis, sondern auch Klassiker, Lyrik und Sachbücher», erzählt Pollen. Norwegen-Fans können sich also auf viel Lesestoff aus ihrem Reiseland freuen.
Für Pollen zeichnet gerade die Vielfalt die norwegische Literatur aus. «Wir haben zum Beispiel auffallend viele Autoren, die für Erwachsene schreiben, aber auch Kinderbücher verfassen.» Zu ihnen zählen Jostein Gaarder (Sophies Welt) oder der Krimiautor Jo Nesbo. Und gerade auch Sachbücher, von der Belletristik beeinflusst, kämen jetzt viele aus dem Norden. «Wir leben in einer offenen Gesellschaft, das spiegelt sich auch in der Kulturszene wider. Es gibt wenige Tabus.»
Der prominente Auftritt an der Frankfurter Buchmesse rückt Norwegen in einen etwas anderen, neuen Fokus. Die meisten Reisenden kennen das Land für seine überaus eindrückliche Natur, die besonders schöne Bilder zeichnet: spitze Berge, die aus dem Wasser ragen, tiefe Fjorde, mystische Wälder, majestätische Gletscher und hohe Wasserfälle. Dazu kommen Phänomene wie das Nordlicht, Polarnächte und Mitternachtssonne.
Doch Norwegen ist auch kulturell ein sehr spannendes Reiseland. Zum einen ist da die moderne Architektur, gerade auch von Kulturhäusern wie der Oper in Oslo oder dem neuen Munch Museum, das 2020 ebenfalls in Oslo eröffnen wird. Sie steht im Kontrast zu historischen Gebäudekomplexen wie beispielsweise dem Kai der Hanse in Bergen (eine Unesco-Welterbestätte) oder der Bergbaustadt Roros. Zum anderen gibt es eine sehr wache und innovative Kulinarik-Szene, die in hippen Lokalen in den Städten regionale Spezialitäten neu belebt und interpretiert. Der Dramatiker Henrik Ibsen war ein Norweger, genauso wie der Komponist Edvard Grieg und der bereits erwähnte Maler Edvard Munch. Zudem zählt das renommierte Bergen Filharmoniske Orkester zu den ältesten der Welt, und das Stavanger Sinfonieorchester, 2012 in ein neues Heim umgezogen, ist eines der erfolgreichsten in Skandinavien. Das ganze Jahr über finden Festivals und Events aus den verschiedensten Sparten der Kultur statt. Die Bühne bildet dabei nicht selten die grandiose Natur.
Wenige Menschen, viele Bücher
Vielleicht ist es auch zu einem Teil der Natur zuzuschreiben, dass Norwegen ein starkes Leseland ist. Laut Norla, der Organisation Norwegian Literature Abroad, geben 88 Prozent der Bevölkerung an, mindesten ein Buch pro Jahr zu lesen. Die langen Nächte im Winter und die kalten Temperaturen draussen verleiten zum Lesen. Dazu kommt, dass viel vom Staat unternommen wird, um sowohl den Büchermarkt als auch die Lesefreude zu fördern. Bei rund fünf Millionen Einwohnern gilt es, die Sprache und die eigene Kultur zu bewahren. Das Norwegische kennt zwei offizielle Schriftsprachen, die samischen Sprachen lassen sich in drei Hauptdialekte einteilen. Die Samen haben unzählige Wörter für Schnee und Eis. Keine leichte Aufgabe für Übersetzer.
Torkil Damhaug beschreibt das Wetter und die Natur ebenfalls meisterhaft. «Die dramatischen Wechsel des Wetters und der Jahreszeiten, die besonderen Lichtverhältnisse in unserem Land beeinflussen uns. Sie schaffen Atmosphäre, prägen unsere Gedanken, Stimmungen und Handlungen.»
Text Stefanie Schnelli
Bild Visit Norway/Tomasz Furmanek