Entsorgen Sie alte Flaschenkapseln ins Altmetall? Schade, eigentlich. Der Ghanaer El Anatsui schafft daraus prachtvoll schimmernde Wandbehänge. Das Haus der Kunst in München zeigt seine Werke bis Ende Juli 2019.
An die Idee, dass Kunst auch aus alltäglichen Materialien entstehen kann, haben wir uns längst gewöhnt. Doch dass aus achtlos Entsorgtem Werke entstehen, die wirken, als stammten sie aus mittelalterlichen Schatzkammern, ist ungewöhnlich. El Anatsui (*1944) schafft dieses «Kunststück», indem er Flaschenverschlüsse aus Aluminium zu flachen Scheiben und Streifen walzen oder zu dreidimensionalen Gebilden formen lässt, die er mit Kupferdraht zu monumentalen Wandbehängen verbindet. Die Werke schillern betörend in Gold, Silber, Schwarz und bunten Farben und scheinen, häufig in Falten gelegt, von Weitem weich wie Stoff zu fliessen. Erst aus der Nähe werden ihre filigrane Struktur und die unterschiedlichen Metallstücke erkennbar, aus denen sie zusammengesetzt sind.
El Anatsui, der seit 1975 in Nigeria lebt und arbeitet, zählt zu den bekanntesten Künstlern Afrikas. 2015 erhielt er an der Kunstbiennale Venedig den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Nun zeigt eine Retrospektive im Haus der Kunst in München eine grosse Auswahl seiner Werke. Neben den spektakulären Wandbehängen sind auch auf dem Boden ausgelegte Arbeiten zu sehen, wie der wunderbare «Tiled Flower Garden» (Gekachelter Blumengarten; 2012), dazu die verspielte Rauminstallation «Logoligi Logarithm» (2019) und früher entstandene Plastiken aus Holz und Keramik.
Während seines Studiums in Ghana in den 1960er-Jahren wurde El Anatsui vor allem in westlicher Kunst geschult. Bereits als junger Mann wandte er sich jedoch den Kunst-(Handwerks-)Traditionen seiner Heimat zu. Er wollte eine eigene Formensprache entwickeln, die sein Umfeld widerspiegelt. So sind bereits die frühen Arbeiten aus Terrakotta und Holz von afrikanischen Materialien, Formen, Mustern, Zeichen, Alltagsgegenständen und Erzählungen inspiriert. «Kunst entsteht aus der spezifischen Situation, in der man ist, und ein Künstler arbeitet am besten mit dem, was er in seiner Umgebung vorfindet – was auch immer das ist», erklärte El Anatsui 2003.
Diese Überzeugung steht auch hinter den metallenen Wandbehängen. Auf die Idee, solche zu «weben», kam El Anatsui vor zwanzig Jahren, als er zufällig eine Menge weggeworfener Verschlüsse von Bier- und Spirituosenflaschen fand. Dabei dürfte ihn die in Afrika weitverbreitete Praxis, aus Altmetall neue Gegenstände zu schaffen, inspiriert haben. Die Muster auf Wandbehängen wie «Man’s Cloth» (2001) beziehen sich zudem auf tradtionelle westafrikanische Textilien.
El Anatsuis Verankerung in Afrika schliesst die Auseinerandersetzung mit der Welt nicht aus. So nimmt der silbern glitzernde Wandbehang «Rising Sea» (2019), der in München eine ganze Saalwand bedeckt, Bezug auf die Klimaerwärmung: So bedrohlich das Problem, so überwältigend das Werk.
Text: Regula Weyermann
Bild: El Anatsui: «Stressed World», 2011. Courtesy of the Artist and Jack Shainman Gallery, New York
Die Ausstellungen:
«El Anatsui. Triumphant Scale»: München, Haus der Kunst, bis 28.7.2019, hausderkunst.de
Weitere Stationen: Doha, Mathaf, 1.10.2019–2.2.2020; Bern, Kunstmuseum, 13.3.–21.6.2020; Bilbao, Guggenheim Museum, 17.7.–1.11.2020