Unterwegs im Soomaa Nationalpark. (Bild: Visit Estonia/Sven Zacek)
Estland lockt mit endlosen Mooren und Wäldern. Wer sie erkundet, erlebt eine einzigartige Wildnis. Mehr als 800 Braunbären leben im Land.
Lassen wir den Wald für sich sprechen. Kaum irgendwo sonst kann man ihm besser zuhören als im Kanu auf dem Flüsschen Raudna. Zum Flöten der Amseln paddeln wir leise vorwärts. Der Sprosser probt sein zauberhaftes Nachtigallenlied. Spechte trommeln. Irgendwo ruft ein Kauz. Mücken surren über dem Wasser, das den hellen Himmel spiegelt. Der Wald von Soomaa spricht viele Sprachen. Und aus den Waldwiesen steigt der weisse Nebel so wunderbar, als habe Matthias Claudius die Strophen seines Abendlieds «Der Mond ist aufgegangen» auf eben jenem Fluss im estnischen Nirgendwo ersonnen.
Wer mit Indrek Vainu schweigend und lauschend durch die Wildnis des Soomaa-Nationalparks paddelt, verfällt schnell der Magie der baltischen Waldeinsamkeit. Der estnische Naturschützer verliert nicht viele Worte und überlässt es seiner Wahlheimat allein, Besucher in ihren Bann zu ziehen. Der eben angereiste Gast mag in Pandemiezeiten von fernen Dschungelflüssen geträumt haben. Jetzt bringt ihn das Kanu in eine Welt, die ihn daran erinnert, dass auch Europa einmal ein Kontinent wilder Schönheit war, wenn auch schon lange nicht mehr von solcher Unberührtheit wie hier. Durch die Wildnis Estlands streifen noch immer Bären, Wölfe und Luchse.
In der Raudna bewegt sich etwas vor Vainus Kanu. Es ist ein Biber, der wohl nachsehen will, welches Gefährt sich so spät am Abend seiner Burg nähert. «Das hier ist ihr Reich», sagt der 40-Jährige, nachdem das Kanu fast lautlos weiter in den Wald vorgedrungen ist. «Sie sind die einzigen, die hier Bäume fällen sollten.» Weil er sich aufgrund der fortschreitenden Kahlschläge in Estland immer wieder mit der Holzindustrie und der Politik anlegt, ist Vainu inzwischen einer der bekanntesten Waldaktivisten des Landes. Gemeinsam mit anderen Naturschützern hat Vainu immer wieder dokumentiert, wie in verschiedenen Landesteilen grossflächig Wälder kahlgeschlagen wurden. «Die Behörden geben an, dass alles unter den bestehenden Auflagen geschieht», sagt Vainu. «Tatsächlich kann das kaum jemand überprüfen, und das macht sich die Industrie zunutze.»
Naturtouristen können dazu beitragen, dass Estlands Wälder und Moore erhalten bleiben. Wer sie erkundet, entdeckt eine einzigartige Wildnis und fühlt sich vielerorts ins ferne Kanada versetzt. Ob im Soomaa-, Karula- oder Alutaguse-Nationalpark im Landesinnern oder im Lahemaa-, Vilsandi- oder Matsalu-Nationalpark an der Küste – überall finden Wanderer und Kanufahrer Waldpfade, Flüsse, Seen und Inselchen, die sie oft ganz für sich allein haben.
Flughörnchen auf der Spur
In Alutaguse im Nordosten Estlands wandert Bert Rähni durch ein Moorgebiet. Die Sumpfwiesen entlang des Bohlenwegs leuchten silbern von den Blüten des Wollgrases. Der Veranstalter für Naturreisen weist auf die Vielzahl von Beeren am Wegrand hin. Im Herbst schwärmen die Esten aus, um überall Heidel-, Preisel-, Moos- und Moltebeeren zu pflücken. Aus dem Moor geht es weiter durch einen lichten Espenwald. «Solche Orte lieben die Flughörnchen», sagt Rähni, «um sie zu sehen, muss man aber nachts unterwegs sein.» Die hübschen Nager mit dem mausgrauen Pelz und den übergrossen schwarzen Augen gleiten mit ihrer ausgespreizten Flughaut bis zu 35 Meter von Baum zu Baum. Rähni bietet spezielle Touren an, um die bedrohten Tiere zu beobachten. «Sie sind in letzter Zeit sehr selten geworden», sagt er. Neben Russland kommen sie in Europa nur noch in Finnland und Estland vor.
Im Schlamm hat Rähni eine frische Bärenspur entdeckt. Der Naturführer reagiert gelassen. «Bärenangriffe sind hier sehr selten und wenn sie vorkommen, dann nur bei Jagdunfällen oder wenn man zwischen eine Bärin und ihre Jungen gerät.» Für Wanderer gehe keinerlei Gefahr aus. «Die Toleranz für Bären ist hier sehr hoch und jeder hat seine eigenen Geschichten mit ihnen.» In Estland leben mehr als 800 Braunbären. Nirgendwo sonst in Europa gibt es eine dichtere Population.
Die Tiere zogen vor der Pandemie eine wachsende Zahl von Touristen an. Bereits 2017 hatten mehr als 30 Reiseveranstalter und Tourismusunternehmen einen offenen Brief an das Umweltministerium geschrieben. «Die ständig fortschreitenden Abholzungen widersprechen dem internationalen Bild Estlands als eines Landes unberührter Natur und geschützter Wälder», heisst es darin. «Theoretisch stehen 26 Prozent unter Schutz, aber in Wirklichkeit wird täglich in unseren Nationalparks gerodet.» Auch für Rähnis kleines Unternehmen NaTourEst ist die Situation bereits zur Bedrohung geworden. Eigens für die Bärenbeobachtung bietet er Übernachtungen in einer Hütte an einer Lichtung an. Der Wanderpfad dorthin führt durch einen dichten Nadelwald. Am Wegrand streuen Kuckuckslichtnelken, Storchenschnabel und Baldrian Farbe ins Grün. Um sie flattern bunte Schmetterlinge. Irgendwann steht Rähni vor einer Kahlschlagfläche. Abgehackte Baumstümpfe zeugen davon, dass hier vor nicht allzu langer Zeit Kettensägen am Werk waren. «Es war ein Schock», sagt er mit Blick auf die klaffende Lücke im Wald.
Auge in Auge mit dem Bären
Noch aber kommen die Bären regelmässig auf Rähnis Lichtung. Wenn Meister Petz in den hellen Sommernächten von Alutaguse urplötzlich aus dem Wald auftaucht, halten in der Beobachtungshütte alle den Atem an. Misstrauisch blickt das grösste Landraubtier Europas in Richtung seiner verborgenen Bewunderer. Es ist, als sehe einem die Wildnis selbst einen Moment lang in die Augen. Inzwischen hat Rähni in einem anderen Teil von Alutaguse zwei weitere Hütten aufgestellt und 86 Hektar Land aufgekauft. «Wir nutzen aber nur zwei Hektar für unsere Aktivitäten», sagt er, «der Rest bleibt sich selbst überlassen.» Er hofft, dass der estnische Wald weiter Heimat von Braunbären, Auerhähnen und Flughörnchen bleibt. «Sie sind der wahre Wert des Waldes. Ohne sie kommen keine Touristen hierher.»
Text: Winfried Schumacher
Gut zu wissen
Anreise: Zum Beispiel mit Swiss (swiss.com) nonstop ab Zürich nach Tallinn. Für die Erkundung der Wälder und Nationalparks des Landes empfiehlt sich ein Mietwagen.
Unterkünfte: Das «Soomaa Puhkekyla» hat wunderschön eingerichtete Zimmer und ist ein idealer Ausgangsort für Kanutouren, Wanderungen und Mountainbike-Touren im Nationalpark. Nach dem Abenteuer in der Wildnis entspannt man hier in einer der Saunen oder im Hot Tub am Flüsschen Halliste. soomaapuhkekyla.com
Eine Übernachtung in einer der Bärenbeobachtungshütten von Alutaguse ist ein einzigartiges Erlebnis. Mit Naturführer Bert Rähni entdeckt man die Fauna und Flora mit neuen Augen. natourest.ee
Fürstlich übernachtet man in den restaurierten Gutshöfen Palmse und Sagadi in Lahemaa, Estlands ältestem Nationalpark. palmse.ee; sagadi.ee
Essen und Trinken: Frischen Fisch aus der Ostsee und eine innovative estnische Küche probiert man am besten im neu eröffneten «Mere 38». mere38.ee
Weitere Informationen: visitestonia.com