Von Buenos Aires aus hat der Tango die Welt erobert. Heute kehren Reisende zu seinen Wurzeln zurück, um in alten Lokalen und neuen Clubs in seine Melancholie einzutauchen.
Unter dem weiten südamerikanischen Himmel rast der Taxifahrer mit seinem klapprigen Gefährt den breiten Boulevard in Buenos Aires entlang. In halsbrecherischem Tempo vorbei an verspiegelten Fassaden von Hochhaustürmen und verschnörkelten Jugendstilbauten. «Tango? Selbst der Papst hat in seiner Jugend Tango getanzt!», weiss er. Und die Touristen, die er durch die Stadt kutschiert, kommen häufig wegen des Tangos. Er drosselt das Tempo und biegt in die vielspurige Avenida Corrientes ein, eine der Hauptschlagadern der argentinischen 14-Millionen-Megametropole. Der Taxifahrer deutet auf ein überdimensioniertes Banner an einer Hausfassade: «Tango!» – Reklame für ein Musical.
Die quirlige Avenida Corrientes ist im Zentrum dicht gesäumt von Theatern und Musicals, von Pizzerien und Cafés, von CD- und Buchläden, von denen man manche bis spät in die Nacht durchstöbern kann. Buenos Aires ist auch eine Megametropole der Kultur. Die Stadt soll mehr Theater beherbergen als New York. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Corrientes deshalb «der kleine Broadway» getauft, «die Strasse, die niemals schläft». Damals trafen und mengten sich in Buenos Aires Kulturen aus allen Winkeln der Welt zu einer pulsierenden Grossstadt. Aus solch einem Gemisch wird der Tango geboren, der in den 1930er Jahren die jungen Menschen der ganzen Stadt erobert.
Tango bietet Perspektiven
Heute haben die jungen Porteños, wie die Bewohner der argentinischen Hauptstadt sich nennen, den Tango wieder entdeckt: In dem krisengeschüttelten Land bietet er ihnen einen Lebensunterhalt. Junge blitzschnelle Tänzerinnen und Tänzer werden für Shows gebraucht und unterrichten, junge Musiker in wildem Aufzug versprechen Tango-Punk und bringen mit ihren Orchestern Tanzsäle zum Kochen. Und auch Schneiderinnen und Schuhmacher, Kellnerinnen und Organisatoren sichern mit dem Tango ihr Überleben in einem Land, in dem die Inflationsrate bei 40 Prozent liegt und ein Drittel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze lebt.
«Tango», strahlt der Portier des Hotels und blättert durch ein halbes Dutzend Prospekte auf seinem Empfangstresen. «Cena y Show», ein gutes Steak, ein feiner Rotwein und eine Tangoshow mit Live-Musik und Tanzpaaren. Unter gut 25 verschiedenen Shows kann der Besucher wählen. «El Querandí», rät der Portier, überlegt kurz, oder «El Viejo Almacen», beides alte Lokale mit Geschichte in San Telmo, einem malerischen Viertel mit Kopfsteinpflaster, niedrigen Kolonialhäusern, alten Eck-Cafés und Designläden.
«Tango!», ruft die junge Frau von der Touristeninfo an der Fussgängerzone Florida und zückt einen bunten Flyer: «Tango Buenos Aires Festival y Mundial».
Tango singen
Neben dem internationalen Wettbewerb, bei dem jährlich im August das beste Tangotanzpaar zum Weltmeister gekürt wird, so verspricht sie begeistert, organisiert die Stadt über 200 Veranstaltungen rund um das «Campeonato Mundial». Und nicht nur die Ausscheidungs-runden in der «Usina de Arte» in La Boca sind für die Besucher kostenlos, auch Konzerte und Unterrichtsstunden, Lesungen und Tanzabende mit Live-Musik unter freiem Himmel, für die die Stadt schon mal ein Teilstück einer fünfspurigen Avenida im Zentrum sperrt. Statt Hupen, Brummen und Reifengequietsche seufzen dann Bandoneons und Streicher in den Nachthimmel.
Mitten auf der Strasse auf einer Bühne spielt das Orchester die ersten Takte des nächsten Stückes an. Und die Menschen rundum stimmen ein: «Ich weiss nicht, warum ich dich verlor und auch nicht wann es war», singen sie, «aber an deiner Seite liess ich mein ganzes Leben!» Es ist eine der Tango-Hymnen aus den 1940er Jahren, die jeder Argentinier kennt. Tango tanzen? Nein, lächelt die Dame, aber diesen Tango kennt sie natürlich. Sie ist nicht allein. Nur wenige Porteños tanzen Tango. Viel populärer sind Cumbia und Salsa. Aber die Tangomusik, seine Poesie, sein Lebensgefühl ist tief verankert in ihren Herzen. Die Sehnsucht, die Schicksalsergebenheit
die leichte Melancholie, die über dem Tango schwebt – damit lassen sich auch heute noch die Unwägbarkeiten des Lebens leichter ertragen.
«Ach, Tango …», seufzt auch ein alter Herr mit Sakko am Rand. 1949 hatte er seine zukünftige Frau beim Tangotanzen kennengelernt, dann kamen die Kinder und in den 1980er Jahren fingen sie wieder mit dem Tango an. Jetzt ist er allein und geht zum Tanzen noch immer jeden Sonntag in den Salon Canning. «Die Jungen», sagt er, «treffen sich dort am Freitag.»
Ein Versprechen, eine Umarmung
Freitagnacht, 2 Uhr. Tanzpaare drängen sich dicht an dicht auf der Tanzfläche des Canning. In einem Meer von Umarmungen hält sich ein hünenhafter Schwede an einer Japanerin fest. Ein Mann mit einem kleinen Buckel und verschmitztem Gesicht führt mit eleganten Schritten eine wie angegossene Partnerin in immer neue Drehungen. Ein Herr mit grau melierten Schläfen geleitet selig lächelnd eine langbeinige Schönheit im Minirock übers Parkett. Eine Minute später fegt der DJ mit einem lauten Popsong die eben noch eng umschlungenen Paare auseinander und vom Parkett herunter. Pausenmusik. Jetzt werden die Karten neu gemischt. Sehnsuchtsvoll schaut die kleine Japanerin zu einem jungen Mann mit dunklem Haar und schneeweissem Anzug an der Bar. Der Tango, so sagte einmal ein kluger Kopf, ist ein Versprechen, das niemals eingelöst wird.
Was fasziniert Menschen aus aller Welt an diesem Tanz? «Die Umarmung», erklärt ein schüchtern wirkender Mann an der Bar. Es ist Omar Viola, Organisator der Freitagsmilonga im Canning. Einige Minuten teilen zwei Fremde nahezu wortlos eine tröstliche Umarmung. Einige Minuten, die keinerlei Verbindlichkeit nach sich zieht. Der schneeweisse Anzug strebt dem Ausgang zu.
Er sei froh, dass die Touristen den Tango am Leben erhalten, hatte der Taxifahrer auf der Fahrt gesagt. Schliesslich sei der Tango Weltkulturerbe. Vielleicht, so sinniert er, sollte er auch einmal ein paar Schritte wagen.
Von Maike Christen
Edelweiss fliegt zweimal wöchentlich direkt von Zürich nach Buenos Aires. flyedelweiss.com