Buenos Aires atmet Geschichte, strahlt mit Neuem und verzaubert durch unverkennbaren Charme. Eine pulsierende Stadt, in der das Leben in kleinen Eckcafés genauso spielt wie auf grossen Plätzen.
Die Augen des Kellners leuchten. «Der Papst hat meinen Neffen getauft», sagt er und schiebt einen Café Cortado über den Tresen. «In der Kirche dort drüben!» Er zeigt durch die Fensterfront des Café Gran Victoria über die Plaza de Mayo. Die Plaza de Mayo ist das Herzstück von Buenos Aires. War es von Anbeginn, als die Stadt 1580 auf einem Stück Kuhhaut, so die Legende, entworfen wurde. Rundum stehen hier gewichtige Gebäude: das alte koloniale Rathaus Cabildo, der rosafarbene Regierungssitz Casa Rosada und natürlich die Kirche, die, nachdem sie ein ums andere Mal eingestürzt war, Mitte des 19. Jahrhunderts die neoklassizistische Gestalt eines griechischen Tempels annahm.
In dieser Kirche wirkte Monseñor Bergoglio bis 2013. Dann wurde er zum Papst gewählt. Jeder, der an der Plaza de Mayo lebt und arbeitet, hat irgendeine Erinnerung an Monseñor Bergoglio. Schliesslich lebte der Papst im Viertel. Am Kiosk an der Ecke beim Café Gran Victoria holte er seine Zeitungen, beim Barbier in der Pasaje Roverano, ein paar Schritte weiter, liess er sich einmal im Monat die Haare schneiden und an der Plaza de Mayo stieg er in den Bus und in die Subte, die Untergrundbahn. Jeder hier kann etwas über «el Papa Francesco» erzählen.
Auf Evitas Balkon
Wie häufig ist er über die mit hohen Palmen umsäumte Plaza de Mayo gegangen, durch aufstiebende Tauben, vorbei an fliegenden Händlern, die argentinische Flaggen und gebrannte Erdnüsse verkaufen. Wie häufig ist er an der Maisäule vorbei gekommen und hat die rundum auf das Pflaster gemalten, weissen Kopftücher der Menschenrechtsorganisation Madres de la Plaza de Mayo betreten. Wie viele Protestzüge hat er hier gesehen. Denn auch dafür ist die Plaza de Mayo bekannt: für die stürmische Geschichte durch die Jahrhunderte bis heute. In den späten 1940er Jahren hielt Evita hier vor Tausenden von Menschen flammende Reden vom Balkon der Casa Rosada aus. Einmal Evita sein! Einmal auf jenem Balkon stehen! Der Wachmann am schmiedeisernen Tor vor dem rosafarbenen Regierungsgebäude lächelt charmant und meint: Evitas Balkon betreten? Klar geht das. Allerdings nur samstags. Wenn man sich vorher per Mail angemeldet hat und seinen Pass vorlegen kann. Heute wird das nichts, schüttelt er bedauernd den Kopf. Er schaut verträumt zum blauen Himmel und weist hinter sich. Er würde den alten Hafen besuchen: Hinter der Casa Rosada geht’s direkt zum Puerto Madero.
Alter Hafen in neuem Glanz
In die alten Backsteinspeicher sind heute schicke Restaurants eingezogen. An Dock IV sitzen die Menschen bei Wein und Steak am Kai und betrachten entspannt das gemächliche Schaukeln der weissen Yachten und der Museumsfregatten. Alte Kräne bieten einen hübschen Gegensatz zu den verspiegelten Bürohochhäusern mit ihren bizarren Formen auf der einen und exklusiven Wohntürmen auf der anderen Seite. Dieses Viertel ist in den vergangenen fünfzehn Jahren in Windeseile hochgezogen worden. Es ist das neue, schöne glitzernde Gesicht von Buenos Aires. Ach, seufzt der Mann, müsste er nicht Wache stehen – er zwinkert –, würde er sofort mitkommen zum Hafen. Heute Abend vielleicht? Wenn sich die Lichter märchenhaft im Wasser spiegeln? Doch noch ist früher Nachmittag auf der Plaza de Mayo. Von hier aus Richtung Süden geht es ins älteste Viertel von Buenos Aires, nach San Telmo mit seinen niedrigen Kolonialhäusern und seinem nostalgischen Flair.
In den malerischen Kopfsteinpflastergassen haben sich neben den alteingesessenen Antiquitätenhändlern hippe Läden angesiedelt, neben bröckelndem Putz leuchten neu getünchte Fassaden – hier lädt alles zum Flanieren und Stöbern ein. Und zum Verweilen. Am besten in einem der unzähligen alten Eckcafés, dem Lebensmittelpunkt des hiesigen Grossstadtbewohners. Die Kaffeehauskultur ist so alt und ausgeprägt in Buenos Aires, dass die Stadt 86 Café-Bars als «Bar Notable», als bemerkenswerte Orte mit Geschichte und Tradition, ausgezeichnet hat.
Wie das Café La Poesía mitten in San Telmo. Bei Café con leche und Medialunas lässt sich stundenlang Leben und Treiben beobachten – und, wenn die Kellnerin Carla einen Augenblick Zeit hat – viel über Buenos Aires und seine Bewohner erfahren. Dem Papst allerdings ist sie nie begegnet.
Text: Maike Christen
Bild: iStock