Sechs Jahre nach der grössten Wirtschaftskrise des Landes hat Argentiniens Hauptstadt keinen Grund mehr zu weinen. Buenos Aires sprüht vor Lebensfreude und Kreativität.
Die Luft vibriert. Von der kühlen Brise, die durch das Hafenviertel von Buenos Aires zieht, ist im Stadtteil San Telmo nichts zu spüren. Drückende Hitze hat sich in der Bar La Dorrego breit gemacht. Während die Holzventilatoren verzweifelte Runden drehen, schieben sich schweissgebadete Kellner an leicht bekleideten Männern und Frauen vorbei, die nach einem der begehrten Fensterplätze schielen. Die Temperatur wird allein vom Lärmpegel übertroffen, der in der Bar vorherrscht. Die Musik aus den Lautsprechern mischt sich mit den Klängen, die von der Strasse und den benachbarten Tangolokalen, den Melongas, hereingetragen werden. Übertönt wird das mu sikalische Potpourri lediglich vom Stimmengewirr der Gäste. Ein junger Mann fuchtelt mit den Armen und versucht, die Aufmerksamkeit des Barmannes auf sich zu ziehen. «Noch drei Quilmes, por favor», brüllt er gegen die Dezibel an. Das argentinische Bier, das nach einem Indianervolk benannt wurde und vor den Toren von Buenos Aires gebraut wird, ist heute so begehrt wie ManoloBlahnik-Schuhe im Schlussverkauf.
Es ist Sonntagnachmittag, und der werktags vor sich hinschlummernde Stadtteil San Telmo hat sich in eine quirlige Freilichtbühne verwandelt. Fliegende Händler haben ihre Decken ausgebreitet, die Stühle der Strassencafés ächzen unter dem Kommen und Gehen der Gäste, und auf der Plaza Dorrego versuchen Schnäppchenjäger, den Preis für antike Karaffen und Gläser zu drücken. Währenddessen hat sich im Schatten der Akazien eine Menschentraube gebildet. Bandoneon- und Kontrabass-Musiker spielen zum Tango auf, die melancholischen Klänge werden vom rhythmischen Klatschen der Touristen begleitet. Unter grossem Gelächter umkreist die grazile Tänzerin einen Strassenpolizisten und versucht, ihn mit neckischen Blicken zu bezirzen. Sechs Jahre nach der grössten Wirtschaftskrise des Landes haben die Bewohner der Hauptstadt ihre Lebensfreude wiedergefunden.
Dort, wo im Januar 2002 Abertausende verzweifelter Bürger mit Metallgegenständen auf Kochtöpfe einhämmerten, weil die Banken ihre gesamten Ersparnisse ausgegeben hatten, der Peso durch Inflation und Korruption nur noch so wenig wert war, dass die nächste Monatsmiete kaum bezahlt werden konnte, und sich eine Welle lähmenden Entsetzens breit machte, da pulsiert Buenos Aires wieder. «Die Argentinier sind Stehaufmännchen», sagt Francine Schloth. Die Schweizerin wanderte nach Buenos Aires aus, als das «Paris Südamerikas» nur noch wenig Charme versprühte. Als keine schönen Frauen mit prall gefüllten Einkaufstaschen mehr über die Prachtboulevards flanierten, sondern aufgebrachte Demonstranten ihrer Wut Luft machten, als Pfeifkonzerte statt Theaterbesuche auf der Tagesordnung standen. «Ich habe mitbekommen, wie jeder protestiert und so dazu beigetragen hat, dass es wieder aufwärtsgeht», sagt Francine, die sich ihren Lebensunterhalt als Stadtführerin und Schmuckdesignerin verdient. «Buenos Aires ist wie Phönix aus der Asche auferstanden.»
Die Präsidentin Christina Fernández de Kirchner scheint zwar zu ignorieren, dass die Inflationsrate immer noch bei mehr als 20 Prozent liegt, dass mehr als ein Drittel der Argentinier unter der Armutsgrenze lebt, die Lebenshaltungskosten seit vergangenem Jahr rapide steigen und dass Wirtschaftsexperten bereits die nächste Krise voraussagen. Anstatt sich jedoch jammernd ihrem Schicksal zu ergeben, machen die Porteños, die Hafenbewohner, wie die Einwohner von Buenos Aires genannt werden, aus der Not eine Tugend: Gelebt wird nicht fürs Gestern oder Morgen, sondern fürs Hier und Jetzt. Statt in die Altersvorsorge zu investieren, sind die Ränge der Theater wieder bis auf den letzten Platz gefüllt, wird mit Freunden bis spät in die Nacht gespeist und getrunken, um anschliessend in einer Melonga den neuen Tag zu begrüssen. «Was wir gegessen und getanzt haben, kann uns niemand mehr nehmen», lautet ein argentinisches Sprichwort. Und deshalb werden die Tangoschuhe auch nicht frustriert in die Ecke geworfen, sondern die Ärmel hochgekrempelt. Ferien werden nicht mehr in Übersee, sondern im eigenen Land gemacht, und da Importprodukte zu teuer sind, wird halt so viel wie möglich selbst hergestellt – claro!
Das kreative Epizentrum befindet sich im Stadtteil Palermo Viejo, zwischen der Avenida Santa Fe im Süden und der Avenida Cordoba im Norden. Nirgendwo sonst südlich des Äquators drängeln sich so viele Boutiquen, Galerien und Cafés auf so engem Raum, kann man so gute Pasta und so gutes Steak essen, erzählen die Quartiersbewohner voller Stolz. Von den zahlreichen Autowerkstätten und Schlossereien, die es hier einmal gab, haben den Staatsbankrott nur die wenigsten überlebt. Vor fünf Jahren noch glich Palermo Viejo einer Geisterstadt, war jeder zweite Laden verbarrikadiert. Die leerstehenden Häuser blieben jedoch nicht lange unbewohnt: Beflügelt durch die günstigen Mieten hat sich das einstige Arbeiterquartier italienischer Einwanderer zum In-Viertel der Stadt entwickelt. Und weil Palermo ein bisschen marode und nach Mafia klingt, hat man das Barrio spontan in Palermo Hollywood und Palermo Soho unterteilt. Je nachdem, auf welcher Seite der Bahngleise man sich befindet. Klingt irgendwie schicker, und das ist es hier schliesslich auch, findet Francine. «In Palermo ist es ähnlich wie in den Hackeschen Höfen in Berlin oder im Zürcher Kreis 4 – die Designer haben sich zusammengeschlossen und einen Laden nach dem anderen eröffnet.»
Glänzende Wolkenkratzer und blinkende Werbeplakate wie in L.A oder New York wird man trotz der klangvollen Beinamen in Palermo Viejo aber nicht finden. Zum Glück. Auch wenn Immobilienspekulanten die pittoresken Häuser aufkaufen, was das Zeug hält, und so viele Touristen kommen wie nie, hat sich das Viertel seine Gemütlichkeit bewahrt. Selbst die schwarzgelben Taxen, die wie emsige Bienen durch die Zwölf-Millionen-Metropole schwirren, wirken wie betäubt und ruckeln in Palermo Viejo nur noch gemächlich über das Kopfsteinpflaster. Erst gegen zehn Uhr, wenn die Müdigkeit der vergangenen Nacht aus den Gliedern der Melonga-Besucher verschwunden ist und die Sonne hoch über dem Rio de la Plata steht, werden nach und nach die Rollläden der Schaufenster hochgezogen. Bauarbeiter schlürfen unter lila blühenden Jacandara-Bäumen den ersten Mate-Tee des Tages, junge Männer pfeifen hübschen Chicas hinterher, Dogsitter drehen mit Pudeln, Dackeln und Golden Retrievern ihre Runden und Ladenbesitzer halten einen Plausch mit dem Nachbarn. Ob man das gestrige Fussballspiel verfolgt hat? Sicher doch, wie könnte man es verpasst haben. Die Mannschaft des Hafenviertels La Boca eint die Herzen der Bewohner von Buenos Aires. Egal, ob die Urgrossväter aus Spanien, Italien, England oder Frankreich gekommen sind. Fast könnte man meinen, der Fussballclub wäre ein Heiligtum. Gerade so wie Evita oder der berühmte Schriftsteller Jorge Luís Borges, der in Palermo Viejo aufgewachsen ist. Aber das stimmt natürlich nicht ganz. Wahr hingegen ist, was Borges schon vor vielen Jahren geschrieben hat: «Buenos Aires, eine Stadt, die so ewig ist wie die Luft und das Wasser.»
Von Tina Bremer