Das Okavango-Delta im nördlichen Botswana ist eine menschenleere, nie bezwungene Wildnis, eines der letzten grossen Tierparadiese der Erde. Es ist auch die Heimat des gefährdeten afrikanischen Wildhundes.
Die Geier warten schon. Sie haben längst das grosse Fressen gewittert. Ein Spähtrupp der aschgrauen Vögel hockt im Geäst einer abgestorbenen Akazie und reckt die nackten Hälse. Nur einen kurzen Gleitflug entfernt liegt ein mächtiger Löwe neben einem toten Gnu im Schatten eines Mopanebuschs. Er hat die Eingeweide herausgerissen und den Kadaver bis auf die Rippen ausgehöhlt. Seine Mähne ist blutverklebt.
In Thuso Rasegogwas Ohren vibriert der metallene Flügelschlag der Aasfliegen, der trockene Savannenwind, das lethargische Gurren der Wildtauben. Und irgendwo in weiter Ferne, so weit, dass es ein gewöhnliches Menschenohr nie hören würde, bellt ein Pavian.
«Lassen wir den Löwen!», Thuso hat es plötzlich eilig. Er startet den Motor des Geländewagens. Ist ein Löwe vor der Kamera, der sich über seine Beute hermacht, nicht der Höhepunkt einer jeden Safari? Mag sein. Aber gar nicht weit von hier, irgendwo dort, wo der Pavian bellt, so verspricht es Thuso, wartet ein neues Abenteuer der Wildnis.
Am Morgen haben Ranger in der Nähe des Flugstreifens die Spuren von Wildhunden entdeckt. Seit Wochen war das Rudel irgendwo in den Weiten des OkavangoDeltas verschwunden. Nun sind sie wieder zurück im Zentrum ihres Reviers. Thuso ist überzeugt, dass mich eine Begegnung mit den Tieren über die verkürzte Löwenmahlzeit hinwegtrösten wird.
Seit fünf Jahren lebt der 25Jährige Naturführer in verschiedenen Schutzgebieten im Norden Botswanas. Die Wildhunde des Okavangos sind seine grosse Leidenschaft. Wenn er über «seine Hunde» spricht, so klingt es fast, als erzähle er von seiner eigenen Familie. In der Tat kommen auch eingefleischte Safari-Liebhaber Jahr für Jahr in die Chitabe-Lodge im Zentrum des Okavangos, weil hier die Chancen, die gefährdeten Tiere bei der Jagd zu beobachten, besonders gut stehen. Für die Steppenwölfe lassen sie jeden Löwen und Leoparden links liegen.
Das Okavango-Delta ist ein endloses Sumpfland aus unzähligen Wasserarmen, Inseln, Seen und Teichen, das die Grosstiere aus den umliegenden Wüsten und Steppen magisch anzieht. Hier ist jeder Quadratmeter mit überbordendem Leben besetzt und überall spielt das ewige Drama der Savanne ums Fressen und Gefressenwerden.
Thuso tritt aufs Gaspedal. Die gemütliche Pirschfahrt wird mit einem Mal rasant. Der Wagen schlittert über die sandige Piste. Gegen das Sonnendach klatschen dürre Zweige. Eine Gruppe junger Impala-Antilopen flüchtet ins Dickicht. Ein Savannenhuhn rennt in der Fahrrille um sein Leben. Jetzt höre auch ich die Paviane. Thuso entdeckt tatsächlich ein Männchen in einem Leberwurstbaum, das sich lautstark über Eindringlinge in sein Revier erbost. Noch bevor wir die Auslöser des Affentheaters entdecken, wissen wir Bescheid.
Der beissende Geruch eines vernachlässigten Hundezwingers steigt plötzlich in unsere Nasen. Und schon haben wir die Wildhunde erspäht: 21 Tiere liegen auf ein paar Schattenflecken verteilt im kniehohen Gras. Das Rudel von Chitabe ist damit eines der grössten im Okavango.
Ein bisschen sieht es so aus, als habe sich ein Haufen bunt gescheckter Strassenköter aus einem Grossstadtslum in die Savanne verirrt. Der Afrikanische Wildhund zählt jedoch zu den gefährdetsten Raubtieren des Kontinents. Vermutlich leben weniger als 5000 Tiere über verschiedene Schutzgebiete südlich des Äquators versprengt. Durch den Verlust ihrer Lebensräume, Verfolgung durch Viehzüchter und eingeschleppte Krankheiten wie Tollwut und Staupe wurde die Art fast ausgerottet.
Erst gegen drei Uhr nachmittags kommt plötzlich Leben in das schläfrige Pack. Der Leitrüde tritt in die Lichtung, dehnt die müden Glieder in bester Haushundmanier und bald folgt ihm das Rudel. Die Jungen balgen im Gras, werfen sich vergnügt jaulend und knurrend aufeinander. Doch nicht weit von dieser Idylle warten der Feind – Löwen und Hyänen – sowie die Beute.
«Sie haben heute noch nichts gefressen», weiss Thuso, «man sieht es an ihren dürren Bäuchen. Die Tiere müssen jeden Tag auf die Jagd gehen, um zu überleben.» Weil die Hunde anders als etwa Löwen und Leoparden auf das tägliche Jagen angewiesen sind, ist es viel einfacher als bei Grosskatzen, sie dabei zu beobachten. Das macht eine Wildhund-Safari so spannend.
Der Leitrüde mustert die Buschgruppen um die Lichtung. Seine Schnauze hält er weit über die Halmspitzen des Savannengrases, die runden Ohren wie zwei Satellitenschüsseln nach vorne gerichtet. Die Meute kommt in Bewegung. Aus der streunenden Hundebande wird ein wildes Wolfsrudel auf Beutezug. Als Schlusslicht humpelt ein Weibchen mit hochgezogener Pfote hinter den anderen her. Aufgeregt kreischend verfolgen die Paviane den Aufbruch des Rudels. Sie wissen, im Geäst der Bäume sind sie sicher. Jede Antilope aber, die den Hunden jetzt in die Quere kommt, hat kaum eine Überlebenschance.
Mit dem Geländewagen sind wir dem Rudel dicht auf den Fersen. Die Tiere scheinen von unserer Präsenz kaum Notiz zu nehmen. Sie kommen bis auf wenige Meter heran. Es ist bereits spät am Nachmittag, aber die Sonne brennt immer noch unerbittlich von einem fahlen, wolkenlosen Himmel. Die Hitze kriecht in die letzten Schattenlöcher. Das Rudel ist erschöpft. Immer wieder kühlen sich die Tiere in Wasserpfützen und Tümpeln, tauchen die ausgemergelten Körper ins wenig erfrischende Nass. Mit zugeneigten Schnauzenschüben scheinen sie sich gegenseitig zu ermuntern. Sie suchen die innige Berührung der Kameraden.
Der menschliche Beobachter fängt plötzlich an, mitzufühlen mit der wilden Hundebande. Eben noch waren sie nichts als ein blutrünstiges Pack mit dem mörderischen Instinkt eines Löwen. Urplötzlich aber sind aus den Steppenwölfen armselige Kreaturen geworden. Das Überleben der Wildhunde, das beginnt man langsam zu begreifen, hängt allein von ihrem fast zärtlichen Zusammenhalt ab. Das hinkende Weibchen mit der hochgezogenen Pfote hätte ohne das Rudel wohl keine zwei Tage zum Überleben. «Niemals würden sie einen Alten oder Kranken alleine zurücklassen!», sagt Thuso, «sie halten bis zum Tod zusammen.» Die Strategie der Wildhunde im brutalen Kampf ums Überleben ist die der bedingungslosen Solidarität. «Kein anderes Tier der Savanne hat solch ein ausgeprägtes Sozialverhalten», erklärt er, «sie sind ein Vorbild für uns Menschen.»
Ein schwacher Wind streicht durch das Steppengras. Im blonden Flaum von Millionen Halmen verfängt sich spätes Abendlicht. In einer Lichtung entdecken wir plötzlich das Impalarudel. Noch ahnen die Antilopen nichts. Das Hundepack ist mit einem Mal hellwach und der Leitrüde bricht auf zum Sturm. Die Hetzjagd dauert nur wenige Sekunden. Ein junges Impalamännchen ist in ein paar Augenblicken umzingelt. Der Leitrüde stürzt sich auf die ohnmächtige Antilope, die Meute zerrt es zu Boden. Das Tier wird bei lebendigem Leib zerrissen. 21 hungrige Wolfsmäuler fallen über den Kadaver her. Das blutige Gemetzel ist so schnell zu Ende, wie es begonnen hat. Von der Antilope sind in zehn Minuten nur noch verstreute Knochen übrig. Hinter der schlanken Silhouette einer Fächerpalme geht am silberblauen Firmament die Sichel des Monds auf. Das hinkende Weibchen hält den abgenagten Schädel der Antilope im Maul und verschwindet damit in der Finsternis.
Von Win Schumacher