Das einstige Arbeiter- und Industrieviertel Bushwick in New York feiert seine Neuerfindung als Zentrum für Kunst, Kultur und Konsum. Ein Streifzug durch ein Quartier im Wandel.
New York ist bekannt dafür, dass sich Künstlerszenen schnell von einem Stadtteil in einen anderen verlagern. Neustes Beispiel ist Bushwick, im Osten von Brooklyn, ein ehemaliges Arbeiter- und Industriequartier. Noch lässt es sich zu Fuss nicht leicht entdecken. Secondhand Shops wie der «L-Train Vintage» oder «Beacon’s Closet», der Musikladen «Rock’n’Roll Supplies» und sogar ein Fussball-Shop (eine Seltenheit in den USA) verstecken sich in Seitenstrassen und auf alten Fabrikarealen. Um die verborgenen Perlen zu entdecken, mietet man am besten ein Velo, zum Beispiel an der Ecke Myrtle Avenue und Broadway.
Wir sind hier genau genommen zwar noch in East Williamsburg, es ist aber auch das Tor zu Bushwick, mit dem J- oder M-Zug aus Manhattan in einer Viertelstunde zu erreichen. An der Ecke befindet sich die Bar «Birdy’s». Sie hat alles, was ein guter Hangout für die junge Bevölkerung des Quartiers braucht: Eine lange Theke, im hinteren Teil Tischfussball und Flipperkästen, ein paar Gartentische. Schon am Nachmittag herrscht viel Betrieb. Aus den Boxen klingt feiner Postpunk-Sound, Wire, Cure – viel Britisches.
Kuratiert wird die Musik von den Besitzern des Lokals, Holly MacGibbon und Andy Simmons. «East Williamsburg? Das ist eine Erfindung der Makler, die Apartments verkaufen wollen», sagt Holly. «Das hier ist Bushwick!» Das Duo bildet den Kern der Gothrock-Band «Weeknight», beliebt bei der lokalen Bevölkerung. Ein Grossteil der Besucher ihres Konzertes im neuen Musikclub «Alphaville» gehört auch zur Kundschaft im «Birdy’s», die beiden Lokale sind kaum vier Strassenblocks voneinander entfernt. MacGibbon und Simmons, nicht nur als Beizenbesitzer und Bandleader ein Paar, führen das, was manch junge Künstlerin oder Künstler als eine Art Traumleben bezeichnen würden. Simmons war Schauspieler, MacGibbon Tänzerin, ihre Liebe für die gleiche Musik brachte die beiden zusammen, ebenso wie die Suche nach einer Kultur, die nicht vom Geld regiert ist. «Manhattan und Williamsburg sind heute wie Disney World», sagt Holly. Das «Birdy’s» läuft gut, ihnen graut aber davor, auf der Liste der trendigen Orte in der hippen Nachbarschaft zu landen. «Das Internet ruiniert die Subkultur», sagt Andy, «sobald es dich entdeckt, ist es vorbei.»
Täglich neue Street Art
Die Türen einrennen wollen die Trendscouter indes bei Matt Webber, stiller Teilhaber von «Birdy’s» und Besitzer von drei weiteren angesagten Lokalen in Bushwick – «The Narrows», «Old Stanley’s» und «Carmelo’s». Er zeichnet wesentlich für den Wiederaufschwung von Bushwick mit. Auch Webber war einst vielversprechender Bandleader, den Plattenvertrag schnappten ihm Ende der 90er Jahre «Maroon 5» weg, bis heute eine Hitband für Warner Brothers. Doch auf den vergänglichen Ruhm der Popwelt verzichtet Webber heute gerne. Er hat eben eine Consulting Company für Bars und Restaurants in Brooklyn gegründet, hatte alle Hände voll zu tun und Jobs zu verteilen: «Können wir dich als Texter anheuern?»
Dass sich im mobil-dynamischen Bushwick alle einen – wenn auch oft unterbezahlten – Job ergattern können, zeichnet die Gegend aus. Für ein paar Dollars bemalen hier Street-Art-Künstler alte Hausfassaden und ersparen dem Besitzer einen Neuanstrich. Fast jede Ecke wird so nicht nur für die heimischen verschlafenen Hipster und ihre bunten Freunde aus aller Welt ein Foto wert: Hier eine von Roy Lichtenstein entlehnte gigantische Todesszene, dort eine Reminiszenz an die grossen Rapper Brooklyns, und jeden Tag kommt Neues dazu. Bushwick gilt derzeit nach Mexico City als beste Region für Street Art.
Kunst im Kopf
Dafür, dass die Kunst aber nicht nur an den Wänden, sondern auch in den Köpfen Halt findet, bürgt eine rasch wachsende Zahl kleiner Galerien, die weniger um kommerziellen Erfolg bestrebt sind als um einen Namen in der neuen Kunst. Ein Paradebeispiel ist die Galerie »Fresh Window» der Schweizerin Alma Egger im Untergeschoss eines Industriegebäudes an der Bogart Street. Im «Fresh Window» will Egger Kunst und Alltag im Gegenspiel miteinander zeigen – dafür hat sie in Bushwick den idealen Platz gefunden, bestes Netzwerk inklusive: Die alte Fabrik beheimatet fast ein Dutzend Galerien, daneben Künstlerateliers, man kennt sich, es ist immer etwas los.
Soviel Kunst macht hungrig! «Roberta’s» war vor zehn Jahren das erste Restaurant, für dessen Pizze Volk auch aus Manhattan nach Bushwick zu locken war. Mit Pioniergeist machten sich die drei Gründer mit italienischen Wurzeln – ein Künstler, ein Musiker und ein Koch, die durch die hohen Mieten aus Williamsburg vertrieben worden waren – an die Arbeit: Im Hinterhof wurde eine Radiostation eingerichtet, ein lokaler biologischer Dachgarten beliefert das Restaurant mit Frischprodukten. Bald kamen auch Hillary und Bill Clinton zu Besuch, heute wartet man zu Stosszeiten weit über eine Stunde auf einen Tisch. Andere etwas allzu schicke und überteuerte Restaurants folgten «Roberta’s» Beispiel in Bushwick – etwa «Le Garage», das eine kleine Auswahl französischer Gerichte führt, oder «Faro», auf italienische Küche spezialisiert.
Einst ein holländisches Dorf
Sympathischer sind die improvisierten Eckcafés und Hinterhöfe wie das «Union Pizza Works», befeuert mit einem Ofen aus dem Metall eines italienischen U-Bootes aus dem Zweiten Weltkrieg. Oder das äthiopische «Bunna», bei dem der Teigteller gleich mitgegessen wird. Grosse Portionen bester mexikanischer Tacos und Quesadillos werden im alteingesessenen «Los Hermanos» zu günstigsten Preisen serviert: Man wird hier daran erinnert, dass von den rund 350 00 Bewohnern des Quartiers nur wenige reich sind. Bushwick wurde im 18. Jahrhundert von holländischen Siedlern als unabhängiges Dorf gegründet, im 19. Jahrhundert von mittellosen deutschen Arbeitern überrannt und ist seit dem späten 20. Jahrhundert Heimat der grössten lateinamerikanischen Gemeinschaft in Brooklyn.
Nun wandelt sich das Strassenbild wieder. Alte Garagen und Schuttplätze verschwinden, an ihrer Stelle entstehen billig gebaute Wohnhäuser und Ladenlokale. Über den Ausverkauf sollte man sich aber nicht aufregen, sagt Shashi Conant. «In New York ist man entweder, weil man etwas verkaufen will oder sich verstecken muss.» Der Handwerker, Roadie und Schlagzeuger übt mit seiner Band im «Sweat Shop», einer alten Backsteinfabrik an der Meserole Street mit Dutzenden von Proberäumen und Musikstudios, unweit der neuen Partyhalle «Elsewhere», wo heute die grossen Rockacts auftreten. «Die Zeit, in der man in Bushwick machen konnte, was man wollte, ist schon vorbei», sagt er. «Wer diesen Spielplatz für Erwachsene, die nicht aufwachsen wollen, nicht gesehen hat, sollte ihn nun noch besuchen!»
Text: Roman Elsener, Bilder: Roman Elsener