Auf den ersten Blick gefällt Davos nicht allen. Doch wer sich auf die Alpenstadt einlässt, den zieht sie in ihren Bann. Auch Bergführer Jann Kühnis möchte den Blick aufs Tinzenhorn nicht missen.
Es steht südwestlich von Filisur und trennt das Albulatal vom Oberhalbstein, das 3173 m hohe Tinzenhorn. Am schönsten zu sehen ist es von Davos aus, wenn man dem Landwasser entlang talauswärts blickt. Internationale Berühmtheit erlangte es mit dem deutschen Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner. Er, der die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in Davos verbrachte, malte visionäre Landschaften, die den überwältigenden Eindruck der Alpenlandschaft in symbolhaltigen Formen und Farben übersetzen. Im Zentrum seiner Davoser Werke steht oft der markante Kirchturm St. Johann oder eben das Tinzenhorn – beide unter anderem gut zu sehen auf dem Bild «Davos mit Kirche», welches im Kirchnermuseum in Davos ausgestellt ist.
Von der Faszination des Tinzenhorns weiss auch der Davoser Bergführer Jann Kühnis zu berichten, der den Berg schon mehrmals bestiegen hat. In Davos geboren und mit Blick aufs Tinzenhorn aufgewachsen, hat ihn die alpine Umgebung des Landwassertals fürs Leben geprägt. Schon als Kind verbrachte er die meiste Zeit des Tages draussen in der Natur, zählte im Frühling mit seinem Bruder Reto und Nachbarsjunge Peter voller Freude die weissen und blauen Krokusse, die neben dem letzten Frühlingsschnee ihre Köpfe aus dem noch nassen Boden streckten, tobte im Sommer ausgelassen über die frisch gemähten Alpwiesen und freute sich im Herbst bereits wieder auf die ersten Schneeflocken und die Skirennen am Rinerhorn. «Wir haben uns jeweils eine Spur gemacht und konnten so von daheim direkt hinüber zur Talstation des Rinerhorns fahren», erzählt Jann aus seiner Zeit als junger Skirennfahrer. Der Rückweg war dann allerdings weniger spassig, was Freund Peter schon vor deren Aufkommen am Davoser Himmel von einem Hängegleiter träumen liess. Anstatt die Skier heim zu buckeln, hätte er sich lieber vom Höhenwind hinüber zu seinem Elternhaus tragen lassen.
Skirennfahrer wurde dann zwar Cousin Paul Accola, aber auch für Jann Kühnis war früh klar, dass er seine Zeit lieber draussen in der Natur verbringen wollte, als irgendwo hinter einem Bürotisch zu sitzen: «Wenn mich meine Kollegen während meiner Schreinerlehre als Bleichgesicht bezeichneten, hat mich das immer masslos geärgert. Gleichzeitig schwärmten sie von den bis heute legendären Skischulabenden, die sie allwöchentlich für die (weiblichen) Gäste veranstalteten.» Also machte auch Jann Kühnis die Ausbildung zum Skilehrer. Er arbeitete künftig im Sommer weiter als Schreiner bei den Davoser Bergbahnen und im Winter für die Schneesportschule Davos. «Diese Kombination ist für Handwerker ideal, denn im Winter ruhen viele Baustellen in Davos. Die Schneesportschule wiederum kann bis auf wenige Ausnahmen keine Ganzjahresstellen bieten.»
Après-Ski und Partys haben für den mittlerweile zweifachen Familienvater zwar heute nicht mehr dasselbe Gewicht, der Spass an der Arbeit als Skilehrer ist ihm aber geblieben. «Ich habe mir über die Jahre eine Stammkundschaft aufgebaut und es gibt Gäste, mit denen ich bis zu fünfzig Tage im Jahr unterwegs bin.» Da es sich dabei heute mehrheitlich um geübte Skifahrer handelt, die mit ihm vor allem Varianten – also Abfahrten abseits der Piste – fahren, war es für Jann Kühnis naheliegend, auch noch die Ausbildung zum Bergführer zu machen. «In Davos darf man als Skilehrer zwar auch abseits der Pisten fahren, aber es ist klar festgelegt, wo, und irgendwann ist man eingeschränkt. Als Bergführer hingegen ist man frei und muss lediglich die Wildschutzgebiete beachten.»
Die dreijährige Ausbildung zum Bergführer, welche in der Schweiz alternierend von den Kantonen Graubünden, Bern und Wallis durchgeführt wird, ist allerdings nicht jedermanns Sache. Wer den Eintrittstest bestehen will, muss bereits ein geübter Alpinist sein, ein hohes skitechnisches Niveau aufweisen und in guter körperlicher und psychischer Verfassung sein. In verschiedenen Modulen, die nebst dem Hochtourenteil Winter und Sommer auch eine Lawinenausbildung, Sport- und Eisklettern, Touristiktheorie sowie Pflanzen- und Gesteinskunde beinhalten, werden die angehenden Bergführer auf Herz und Nieren getestet, sie müssen sich in schwierigen Verhältnissen zurechtfinden und an ihre Grenzen gehen.
Genauso vielfältig und anspruchsvoll wie die Ausbildung ist anschliessend auch der berufliche Alltag des Bergführers. «Wir müssen spüren, was die Gäste wollen, wir planen die Route, reservieren die Hütte für die Übernachtung oder den Tisch fürs Mittagessen und haben die Verantwortung für die Sicherheit der Gruppe.» Es sei wichtig, den Respekt vor der Natur zu bewahren, sich der Gefahren in den Bergen bewusst zu sein und auch auf bekannten Touren vorsichtig zu bleiben. Insbesondere dann, wenn andere den Pulverhang trotzdem befahren, den er als Bergführer als kritisch eingeschätzt habe, meint Jann Kühnis. Dies sei in den letzten Jahren viel schwieriger geworden, weil es mit den breiteren Skis und Boards heute viel mehr Free riders gebe als früher, welche die Schneesituation mangels entsprechender Ausbildung nicht immer richtig einzuschätzen wissen. «Da muss man konsequent bleiben, auf sein eigenes Gefühl und Wissen vertrauen und den Hang bleiben lassen, auch wenn er noch so traumhaft aussieht.»
Auf den SAC-Hütten sei man als Bergführer unter ständiger Beobachtung, erzählt Jann, auf die Touren im Sommer angesprochen. Er habe es beispielsweise schon oft erlebt, dass sich bei Nebel niemand aus der Hütte wagte. «Sobald aber der Bergführer geht, dann folgen eine Viertelstunde später alle anderen in dessen Spur.» Da sei es auch schon vorgekommen, dass ihm Leute frühmorgens noch im Dunkeln heimlich gefolgt seien, die eigentlich einen anderen Gipfel anpeilten. Er habe sich innerlich dann schon etwas amüsiert, als sie es bei Sonnenaufgang merkten und wohl oder übel wieder den Rückweg antreten mussten, lacht Jann und der Schalk ist in seinen blauen Augen gut sichtbar.
Während der Davoser Bergführer mit seinen Gästen im Winter hauptsächlich Varianten in der Region Davos Klosters befährt, so ist er im Sommer häufig auch in anderen Gebieten anzutreffen. «Unser Kanton bietet nebst dem Piz Bernina keine Viertausender.» Die Dufourspitze ab Zermatt, das Jungfraugebiet und das Finsteraarhorn im Berner Oberland oder der Mont Blanc sind deshalb auch Ziele ausserhalb des Heimgebietes. Die Frage, ob er damit nicht in Konkurrenz zu anderen Bergführern trete und diese verärgere, verneint Jann Kühnis klar. «Wir bringen ja unsere eigenen Gäste und deshalb ist das auch nie ein Problem. Im Gegenteil, als Berufskollegen helfen wir uns gegenseitig und auch ich gebe anderen Bergführern gerne über die Verhältnisse in Davos Auskunft.»
Über die Jahre hat sich in Sachen Touren beim Davoser Bergspezialisten einiges an Wissen angesammelt. Für die eigene Herausforderung ist er mit dem Mountain Bike auch schon über drei Fünftausenderpässe von Lhasa nach Katmandu geradelt und hat auf der Hochzeitsreise mit seiner Frau Claudia den 5895 m hohen Kilimandscharo bestiegen. «So einmalig die Erlebnisse in Asien oder Afrika aber auch waren, es zog mich immer wieder zurück nach Davos. Es ist schön, dass unsere Kinder in Davos aufwachsen können und ein anderer Wohnort kommt für mich bis heute nicht infrage. Einige würden es vielleicht als Bequemlichkeit bezeichnen oder möglicherweise habe ich auch einfach nur Schiss», meint Jann Kühnis. «Aber jedes Mal, wenn ich über den Wolfgangpass komme und das Tinzenhorn mich begrüsst, dann weiss ich, hier ist meine Heimat, hier will ich bleiben.»
Text: Corina Issler Baetschi, Bilder: Stefan Schlumpf und Jann Kühnis