Kerala hat im Hinterland eine Überraschung bereit, die Indien von einer eher unbekannten Seite zeigt: Ruhig und gemütlich. Auf den Backwaters rumzuschippern ist genau darum ein Erlebnis.
Morgendunst liegt über den Backwaters und Reisfeldern. Vögel zwitschern. Irgendwo klopft eine Frau ihre Wäsche. Der Duft von Poori Bhagi, dem Frühstücksbrei mit Ingwer und Chili, zieht in die Nase. Und: Der erste Schock ist verdaut. Nach dem Boarding des Motorschiffes Punnamada am Lake Vembanattu staunte das frisch verheiratete Pärchen nicht schlecht – die Liebenden waren nicht allein. Das hatten sie auch nicht erwartet. Aber der See war voll von Kettuvalams. So werden die ehemaligen Lastkähne genannt, die heute Touristen durch die Backwaters, das verzweigte Netz von Wasserstrassen im Hinterland des südindischen Bundesstaates Kerala, schippern. Kapitän Kurian sagte trocken: «800 Kettuvalams haben wir in der Region.» «800 …», wiederholte die junge Ehefrau erschrocken und ungläubig zugleich.
Etwa 50 Kilometer und eine Nacht weiter sieht ihre Welt aber wieder rosig aus. Die Punnamada ist das einzige Schiff weit und breit und zieht langsam an einer üppigen Landschaft vorbei. Kokospalmen hängen über dem Kanal wie an einem Südsee-Spot. Bananenstauden wechseln sich mit Jackfruit-Bäumen ab, Mango mit Cashew. Bäuerinnen in ihren grellbunten Saris wirken wie Pop-Art im sattgrünen Reisfeld. An Bord tunkt die junge Frau genüsslich das hauchdünne Poori-Brot in den Kartoffelbrei Bhagi. «Auf rund 900 Kilometer Wasserwegen rund um Alleppey verteilt sich alles», erklärt Kapitän Kurian die unerwartete Ruhe. Das gilt sogar für die vielen bis zu 50 Meter langen Kettuvalams. Streng genommen bedeutet das übersetzt «genähtes Boot», weil die Planken früher mit Kokosfaserseilen zusammengebunden und mit Cashew-Öl abgedichtet wurden, ganz ohne Nägel oder Verbundstoffe. Früher – als die Lastkähne noch Reis und Baumaterial transportierten und keine verliebten Hochzeiter. Heute ist jedes Kettuvalam genagelt. Das sagt zumindest Kurian, der vor zehn Jahren als Tuk-Tuk-Fahrer aufhörte und auf dem Kettuvalam anheuerte.
Ein Schatz, der ratlos macht
Angefangen hat der Trend, dass Touristen die Backwaters von Kerala auf Schiffen erkunden, in den 1980er-Jahren. 20 Jahre später standen ihnen dafür bereits 200 umgebaute, charmante ehemalige Lastkähne zur Verfügung. Dann wurden erste Neubauten zu Wasser gelassen. Das misslungenste Beispiel ist das Oberoi-Boot aus Glasfaser verstärktem Kunststoff mit ein paar darüber gehängten Bambusmatten als Deckmäntelchen.
Doch solche Patzer vergisst man schnell, wenn die Natur in Strahlegrün leuchtet, die Inderinnen in Orange, Rot, Gelb oder Azur, und wenn zartlilafarbene Wasserlilien den Eindruck erwecken, sie verbänden Land und Fluss zu einer Einheit. Ab und zu zieht ein Fischer im Einbaum vorbei. Eine Kulisse wie im Paradies. 20 Kilometer pro Stunde sind dabei auch für den 90-PS-Diesel-Motor der Punnamada Höchstgeschwindigkeit in diesem fragilen Süsswassersystem aus 38 Flüssen, unzähligen Kanälen und fünf Seen, das durch Wehre vom Meer getrennt wird. Fast fühlt man sich gestört, wenn einmal am Tag der Kapitän zum Landgang bittet, um eine Entenfarm zu besuchen, den halben Buddha von Karumadi Kuttan zu bewundern oder einen Abstecher zu den Schlangenbooten von Champakulam zu machen. Die handgefertigten, kunstvoll verzierten Einbäume bieten auf mehr als 40 Metern jeweils 105 Ruderern und fünf Steuermännern Platz. Als Tourist besucht man auch das Dorf und die Bootshersteller. Dabei ist eigentlich der Platz an Deck der Punnamada der schönste Ort der Reise. Dort kann man den Erzählungen des Kapitäns lauschen: etwa zum Padmanabhaswamy-Tempel, in dem 2011 ein mysteriöser Schatz gefunden wurde.
Was war damals passiert? Das Fürstentum Travancore, seit 1956 in den Bundesstaat Kerala integriert, konnte für den Unterhalt des Padmanabhaswamy-Tempels nicht mehr aufkommen, sodass das Oberste Gericht Indiens die Übergabe des Tempels an den Bundesstaat Kerala anordnete. Bei der Inventur wurde im Juni 2011 ein Schatz, bestehend aus Diamanten, Rubinen, Smaragden und mehr als 500 Kilogramm Gold, im Wert von insgesamt gut 15 Milliarden Franken gefunden. Die Kellerräume waren seit etwa 130 Jahren verschlossen gewesen. Seit dem Fund sichern ihn zwei Dutzend Polizisten rund um die Uhr. Und abermals ist das Oberste Gericht in New Delhi gefragt: Bis heute ist unklar, was nach diesem unglaublichen Griff ins Glück mit dem Schatz passieren soll.
Ökologisches Wegwerfgeschirr
Die wenigen Gäste an Bord, es gibt nur zwei Doppelkabinen auf der Punnamada, starren oft stundenlang ans Ufer, an dem das Boot in Slow-Motion vorbeizieht. Die Natur ist spannender als jedes Buch und der Alltag ist wie Kino. Das Curry wird an Bord noch auf einem Bananenblatt serviert. Gegessen wird mit der Hand. Und wer fertig ist, wirft den Bio-Teller schnurstracks auf den staubigen Weg am Fluss. Keine Minute später trottet eine Kuh heran und vertilgt seelenruhig das Blatt mit Curry- Geschmack: Abwasch à la India. So war das vor 15 Jahren überall in Kerala noch Alltag. Doch der südliche Bundesstaat hat sich seit der Jahrtausendwende stark gewandelt. Die Teller sind jetzt aus Plastik, die Strassen meist geteert, die Ernten ergiebiger. Elendsviertel sind deutlich weniger zu sehen als in anderen Landesteilen. Was gut ist. Und dennoch freut man sich, dass in den Backwaters noch ein Blick in die Vergangenheit gewährt wird und es Bananenblätter statt Plastikgeschirr gibt.
Nach der Reise wieder an Land, fehlt eines besonders: Die friedliche Stille. Der Lärm Indiens ist wieder da, hörbar, spürbar. Das Hemd klebt schweissnass am Körper und Menschenmengen schieben sich durch die engen Strassen. Die Fahrt durch die Backwaters, das ist nicht Indien, das ist eine Fahrt durchs Glück.
von Jochen Müssig