Das Brüllen eines Löwen ist manchem Schweizer bekannter als das Röhren eines Hirsches. Dabei ist das Erlebnis mit einer Herbstfahrt ins Engadin zu haben – ins berühmteste Huftiertal der Alpen.
«Ihr werdet sie hören, sehen und riechen», verspricht uns Wanderführer Martin und verteilt denjenigen unserer kleinen Gruppe, die keine haben, grüne Swarovski-Feldstecher. Er selber schnallt sich ein grosses Stativ an den Rucksack, und los geht es vom Parkplatz Präsüras oberhalb des Dorfes S-chanf entlang dem Wildbach Varusch ins Val Trupchun, das wildreichste Tal des Schweizerischen Nationalparks. Im September, der Zeit der Hirschbrunft, soll es hier besonders hoch zu und her gehen.
Die Grenze des 170 Quadratkilometer grossen Schutzgebietes in der südöstlichsten Ecke der Schweiz ist mit einer Tafel am Wegrand markiert, im Gelände aber nicht auszumachen. Sie besteht aus Bachbetten, Rinnen und Berggraten. Wer sie trotzdem genau kennen muss, sind die Jäger, die um diese Jahreszeit drei Wochen lang dem Hochwild nachsetzen. Ein Schuss innerhalb der Parkgrenzen hätte schwerwiegende Konsequenzen. Und doch müssen sie es irgendwie schaffen, die vom Kanton Graubünden vorgegebene Abschussquote, die zur Verhinderung der Überpopulation notwendig ist, einzuhalten. Gelingt dies nicht, sind in harten Wintern viele Tiere dem Hungertod geweiht.
Schutz vor Jägern
Das Wild kennt die Grenzen allerdings auch, und zieht sich instinktiv in den Park zurück, wenn es an ungewohnten Orten und zu ungewohnten Zeiten nach Mensch riecht und klingt. Innerhalb des Parks, wo strenges Weggebot herrscht, wissen die Tiere dagegen, dass Menschen keine Gefahr bedeuten, und sie wagen sich auch tagsüber aus dem Schutz der Wälder, äsen seelenruhig in den grossen Lichtungen und rudelweise auf den riesigen Weideflächen oberhalb der Baumgrenze.
Als Martins geübtes Auge sie nach einer knappen Stunde gemütlicher Wanderzeit entdeckt, steht zu unserer Überraschung im Handumdrehen ein grosses Fernrohr auf seinem Stativ, und wir erhaschen einen ersten Blick auf den stolzen König des Waldes. Gestochen scharf sieht man sein rötlichbraunes Sommerkleid, die üppige Brunftmähne um den Hals und den schwarzen Unterbauch. Majestätisch hebt und senkt er sein ausladendes Geweih, dreht den Kopf langsam mal links, mal rechts, um abzuschätzen, ob die jungen Konkurrenten seinem Harem nicht zu nahen kommen, und entschwindet dann wieder hinter einer Lärche, nicht ohne noch kurz mit vorgestrecktem Kopf und weit offener Schnauze ein Röhren von sich zu geben, das irgendwo zwischen dem Brüllen eines Löwen und dem tiefen Blöken eines Schafes liegt.
Früher geplündert, heute geschützt
Dort, wo sich das Val Trupchun etwas weitet, ist ein leicht ansteigender sonniger Platz ausgesteckt, auf dem sich gegen Mittag ein gutes Dutzend Wanderer niedergelassen hat und mit einem Sandwich in der einen und dem Feldstecher in der anderen Hand die gegenüberliegende Bergflanke absucht – fast wie in einem 3D-Open-Air-Kino, wäre da nicht der böckelige Geruch, der von einem zertrampelten Grasflecken hochzieht, wo sich ein übermütiger Hirsch gewälzt und ausgiebig sein Revier markiert hat.
Wir ziehen fast bis in den Talkessel weiter, vorbei an einer ehemaligen Alp, auf der noch Jahrzehnte nach dem Ende der Bewirtschaftung grosse Blätzen des wunderschön blühenden, dunkelblauen, aber hoch giftigen Eisenhuts von der Überdüngung des Bodens zeugen. Jahrhundertelang wurden dort, wo heute der Nationalpark liegt, Eisenerz, Silber und Blei abgebaut, der Wald kahlgeschlagen, Kohle und Gips gebrannt, tausendköpfige Schaf- und Viehherden gesömmert und rücksichtslos Wild gejagt. Ende des 19. Jahrhunderts waren Bär, Luchs, Wolf, Bartgeier, Steinbock und Hirsch ausgerottet und die Natur sichtbar geschunden.
Dank dem Einsatz umtriebiger Naturschutzaktivisten kam es 1914 zur Gründung des Schweizerischen Nationalparks. Es war der erste Nationalpark im Alpenraum. 1920 wurden wieder Steinböcke angesiedelt, der Rothirsch wanderte erneut aus dem Nordosten ein, und auch der Bartgeier brütet dank Auswilderungen seit 2007 wieder in der Schweiz. Auch ihn haben wir gesehen weit oben über den Gipfeln kreisend. Und zuhinterst im Tal, im grauen Schutt, haben sich noch einzelne Gämsen und drei Steingeissen mit ihren hellbraunen, wuscheligen Kitzen gezeigt. Nur Papa Steinbock hat sich rar gemacht. Dafür tauchten immer wieder Hirsche auf den Kreten im abendlichen Gegenlicht auf, die ihren Liebesruf ins Tal schickten.
Von Lucie Paska
GUT ZU WISSEN
Infos zum Nationalpark
Ausser im Winter ist der Park immer geöffnet; der Eintritt ist frei. Die Brunft findet jeweils zwischen Mitte September und Anfang Oktober statt. Vor dem Besuch des Parkes empfiehlt sich ein Abstecher ins moderne Besucherzentrum in Zernez mit saisonalen Wechselausstellungen. Die geführten Wanderungen im Park vermitteln viel Interessantes und Wissenswertes. Neu gibt es zudem in S-charl einen Bärenerlebnispfad, der insbesondere auch für Kinder konzipiert wurde. www.nationalpark.ch
Unterkünfte in der Nähe
Für Anspruchlose: «Chamanna Cluozza», Blockhaus mitten im Nationalpark. Mehrbettzimmer, kaltes Wasser, keine Duschen. 3 Std. Marschzeit vom Parkplatz. Übernachtung p. P. CHF 30.
Für Anspruchsvolle: 5-Sterne-Hotel «Cadonau» in Brail. Luxuriös und stilvoll. Alles bis zum Eiskübel in Engadiner Arvenholz aus der familieneigenen Holzmanufaktur. Suite für CHF 900.
Für Kunstsinnige: Hotel Castell in Zuoz. Burgähnlich, hoch über dem Dorf, bunt und unkonventionell. Zimmer ab CHF 230.