Der St. Michael’s Mount in Cornwall sieht dem berühmten Mont St. Michel in der Normandie zum Verwechseln ähnlich und könnte dennoch verschiedener nicht sein.
Und plötzlich war sie weg. Von einem Tag auf den anderen hat der Nebel die Insel wie vom Erdboden verschluckt. Typisch Cornwall, diese Launen des Wetters. Noch am Vortag herrschte im kleinen Ort Marazion an der Südwestspitze Englands ausgelassene Badestimmung. Spaziergänger waren in T-Shirts unterwegs und bleichhäutige Jungen paddelten auf ihren Surfbrettern um die Insel des St. Michael’s Mount.
Steingrau ist heute der Strand und fast tintenschwarz das Meer. Die Strandspaziergänger haben sich in dicke Fliesspullover gepackt. Statt kreischender Kinder, die sich vergnügt in die Fluten stürzen, krächzen nun Möwen gegen die Nebelwand an. Wenn sich der St. Michael’s Mount dann gegen Mittag wieder vom Nebelschleier befreit hat, könnte man meinen, einer optischen Täuschung zu erliegen. Seine Silhouette sieht einer anderen Insel fast zum Verwechseln ähnlich: dem Mont St. Michel in der Normandie.
Äusserlich gleich und doch verschieden
Auf einem begrünten Felsen draussen in der Bucht vor Marazion thront auch in Cornwall eine veritable Schloss- und Abteianlage. Und in der Tat wurde zur Zeit der normannischen Herrschaft über England der St. Michael’s Mount Ende des 11. Jahrhunderts den Benediktinermönchen des Mont St. Michel aus der Normandie übereignet. Die Mönche verfügten seinerzeit über ausreichend Macht und Geld, um auch in Cornwall eine Dependance zu eröffnen. Auf dem Gipfel des Inselberges war alsbald eine Kirche entstanden, die auch St. Michael’s Mount zu einer grossen Pilgerstätte werden liess. Jedoch blieb die strategischpolitische Bedeutung des Felsens immer wichtiger als seine religiöse. Den Mönchen half bald nur mehr das Beten, als in den folgenden Kriegen erbitterte Kämpfe ausgetragen wurden. Der Inselhafen war auch wirtschaftlich wichtig, um Zinn aus den nahen Minen zu verschiffen, welches Cornwall einst zum weltgrössten Zinn-Exporteur werden liess und der Grafschaft Mitte des 19. Jahrhunderts zu grossem Reichtum verhalf.
Im Gegensatz zu seinem französischen Geschwisterberg leben auf dem St. Michael’s Mount heute keine Mönche mehr. Hingegen bewohnt die St.-Aubyn-Familie schon in zwölfter Generation die Schlossanlage. Als der Gezeitenplan für kurz vor zehn Uhr Ebbe ankündigt, ist es höchste Zeit, den St. Aubyns einen Besuch abzustatten. Durch den einsetzenden Rückzug des Meeres verliert der St. Michael’s Mount allmählich seinen Inselcharakter und man kann auf dem langsam aus den Fluten auftauchenden Dammweg bald trockenen Fusses hinüber laufen.
Oben auf dem Schlossberg öffnet einem ein dezent auftretender Mann in dunkelblauem Anzug die Tür und stellt sich als James vor. Nein, nicht James der Butler, sondern James St. Aubyn, der 5. Lord St. Levan und Schlossherr auf St. Michael’s Mount. Leise Stimme, sanfter Händedruck. «Down to earth» sei der 67-jährige Lord, sagen die Einheimischen.
Zur Besichtigung eilt der leise Lord schon mal voraus, denn ein Teil des Schlosses ist heute Museum. Durch ein ockergelbes Treppenhaus führen viele Steintreppen vorbei an Kommoden und Gesimsen, voll von Fotos einer langen Familientradition. Die vier Kinder sind längst aus dem Haus und auch James’ Frau Lady Mary ist verreist. So steht der Lord nun alleine im Chevy Chase Room, dem ehemaligen Speisesaal der Klosterbrüder, wo sich auch an Festtagen die St. Aubyns zum Essen einfinden. Die filigranen Stuckfriese mit exotischen Jagdszenen mussten erst aufwendig restauriert werden. «Eine recht kostspielige Angelegenheit bei denkmalgeschützten Gebäuden», sagt der Schlossherr. Wie ein Schlosshund heulen muss er deshalb noch lange nicht, denn sein Grossvater ging vor mehr als sechzig Jahren eine vorausschauende Kooperation mit dem National Trust ein, einer gemeinnützigen Organisation für Objekte von historischem Interesse. Ihr hat er seinerzeit den St. Michael’s Mount samt einer nicht unerheblichen Spende vermacht. Schlau daran war, dass er seiner Familie damals auch ein Wohnrecht im Schloss auf 999 Jahre gesichert hat. Inklusive dem Recht, das Tourismusgeschäft zu führen.
Immerhin 30 000 Besucher hat St. Michael’s Mount jedes Jahr. Im Gegensatz dazu kann der französische Geschwisterberg, der obendrein auch noch Unesco-Welterbestatus besitzt, mit mehr als 3,5 Millionen Gästen aufwarten. «Mehr Besucher, aber auch mehr Probleme», sagt James. Während in der Normandie Kommune, Hotel- und Restaurantbesitzer sowie die Unesco mitzureden haben, ist James froh, dass er sich nur mit dem National Trust verständigen muss.
Lord James lächelt und schüttelt fassungslos den Kopf, als er hinunter in den Park schaut. Zu sehen sind dort zwei Lehrerinnen, die den Lageplan studieren. Ihre Schüler sind ungeduldig: «Wir wollen das Herz des Riesen sehen!» Der Legende nach lebte in grauer Vorzeit ein Riese auf der Insel, der regelmässig hinüber aufs Festland watete, um seinen Hunger mit Rindern und kleinen Kindern zu stillen. Bis ein mutiger Einheimischer ihn in eine Grube lockte und auf der Insel tötete. Den Herzschlag des Riesen könne man heute noch unter den Füssen spüren, heisst es. Deshalb betrachten nun auch andere Besucher irritiert jenen wild zusammengewürfelten Felsenhaufen am Wegesrand, auf dem das Schild «Giants Heart» angebracht ist. «Sie werden kein Herz finden», sagt der Lord und scheint sich darüber zu amüsieren. Die meisten könnten das steinerne Herz nicht erkennen, weil sie auf jenem herzförmigen Stein stünden, der direkt ins Pflaster des Fussweges eingelassen ist, erklärt der Lord.
Von hier oben im Schloss ist auch der über 250 Jahre alte Garten gut einzusehen. Daniel hängt dort schon den ganzen Morgen in den Seilen. Und das nicht etwa, weil er am Vorabend zu lange im Pub war. Daniel ist Gärtner. Klettergestell und Helm gehören in den steilen Terrassenhängen zu seiner Ausrüstung. Seit fast acht Jahren lebt er mit seiner Familie schon auf St. Michael’s Mount. Zwei seiner vier Kinder sind hier zur Welt gekommen, die ersten Inselgeburten seit fünfzig Jahren. Für seine Kinder sei es hier eine recht behütete Kindheit gewesen, sagt Daniel. Doch je älter sie nun werden, umso wichtiger sei es, auch andere Freunde zu finden. Seine Familie will den Berg deshalb bald verlassen: «Es soll auch jemand anders die Chance bekommen, hier arbeiten zu dürfen», sagt der Gärtner und drückt einem zum Abschied noch einen Strauss Medicago in die Hand. Der soll noch rauf ins Schloss, weil morgen Lady Mary zurückerwartet wird.
Wieder öffnet James die Tür. Jetzt wirkt er angespannt. «Sie müssen jetzt gehen», sagt er. Alles klar, der Schlossherr will wohl endlich Feierabend machen. Vermutlich schaut er auch deshalb so ungeduldig auf die Standuhr im Arbeitszimmer. Über dem Ziffernblatt zeigt ein Mondgesicht exakt auf 16 Uhr, was sich bei genauerer Betrachtung jedoch als ausgeklügelte Gezeitenuhr entpuppt. «Wenn Sie noch zu Fuss aufs Festland zurück wollen, sollten Sie jetzt wirklich los.» Alle Besucher müssen die Insel für heute verlassen. Die St. Aubyns dürfen noch 935 Jahre bleiben.
Text: Margit Kohl
Bild: Visit Britain/Joe Cornish