Zwischen Finnland und Schweden liegt das Land der tausend Inseln. Der Schärengarten ist der grösste Archipel Europas und ein Eldorado für Paddler, Segler, Radfahrer und Ruhesuchende.
Um es gleich vorwegzunehmen: Die Ålandinseln machen nicht jedermann auf Anhieb glücklich. Doch wer dort lebt, muss mit sich im Reinen und somit schon ziemlich zufrieden sein. Nur so lassen sich das häufige Alleinsein, die winterliche Düsternis und die zeitweise Isolation überhaupt aushalten. Natürlich verkehren heute regelmässig Fähren zwischen den 60 permanent bewohnten und vorbei an den Tausenden von unbewohnten Eilanden. Doch sie kommen vielerorts nur einmal pro Woche und auch nur, wenn das Wetter und das Meer mitspielen. Bei einem Notfall ist man somit auch im Internet-Zeitalter aufeinander angewiesen. Und je weniger Menschen auf einer solchen Insel leben, desto mehr zählt jede zusätzliche helfende Hand.
Das Anwerben von Neuzuzügern ist den Ålandern deshalb ein grosses Anliegen, und sie sind erstaunlich erfolgreich damit: Der Mittvierziger Casper Mickwitz hat viele Jahre als Banker in Helsinki gearbeitet. Heute ist er Bäcker auf der kleinen Inselgruppe Kökar (Tschökkar ausgesprochen). Die drei durch kurze Brücken verbundenen und stark verästelten Inselteile messen insgesamt knapp zehn mal fünf Kilometer. Die einzelnen Kuppen in der sonst mehrheitlich flachen Landschaft sind rosa Granitbrocken, hie und da mit windschiefen Föhren und Kissen von Heidekraut bewachsen. Ringsherum schlängeln sich Sandpisten und Schotterstrassen vorbei an ausgedehnten Apfelplantagen und kleinen Getreidefeldern. Drei Viertel aller finnischen Äpfel kommen von diesen im Sommer sonnenverwöhnten Inseln. Die geschützten Uferpartien sind gesäumt von ockerroten Fischerhütten und Bootsschuppen mit kurzen Anlegern. An exponierten Lagen ragen auch hier die von den letzten Gletschern glatt- und rundgeschliffenen rosa Felsen aus dem dunklen Wasser.
Einheimische locken Zuzüger an
Viele Inseln hätten Gruppen von Freiwilligen, sogenannte Move-in Partys, die sich interessierten Zuzüger annehmen, erzählt Casper. Zweimal hätten er und seine Frau – die zu Beginn strikt gegen das Abenteuer war, nach Åland zu ziehen – sich mit einer solchen Gruppe getroffen. «Ihre Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft hat uns so gründlich überzeugt, dass eine Woche später bereits der Zügelwagen vor unserer Stadtwohnung stand.» Das war vor vier Jahren, und die Mickwitz’ haben ihren Umzug seither nie bereut. Ein Jahr hatten sie sich Zeit gegeben, um in Åland ein neues Leben zu beginnen. Als Casper damals in der Zeitung ein Inserat «Schwarzbrot-Bäckerei zu verkaufen» entdeckte, habe er zugegriffen, ohne je gebacken oder das Brot gekostet zu haben. Glücklich sein bedeute für ihn, etwas mit den Händen und dem Kopf zu tun, für andere und sich selbst. Heute, nach einer dreimonatigen Anlehre beim alten Bäckermeister und drei Jahren Zeit ist er Besitzer eines stattlichen Produktionsbetriebs und beliefert mit 700 Broten täglich nicht nur die rund 250 Inselbewohner, sondern auch Viking Line, einen der grössten Fährbetriebe zwischen Finnland, Schweden und Estland. Den Start erleichtert hat ihm eine Anschubfinanzierung aus einem EU-Fördertopf.
Eiland mit elf Einwohnern
Das würzige, leicht nach Lebkuchen schmeckende Brot kosten wir etwas später auf der noch kleineren Insel Aspö. Belegt mit selbst geräuchertem Lachs und saurem Hering und dekoriert mit Zwiebelringen und Salzgurken, mundet es ausgezeichnet. Vorgesetzt hat es uns Tore Johansson, der Kapitän unseres Ausflugsbootes. Er ist einer der elf Einwohner Aspös. Neben den fünf Haushalten und der prominenten Kirche mit den vierzehn Gräbern rundherum gibt es auf der Insel noch ein Dutzend geleaster Kühe, die ihre Sommer hier verbringen und das Gras kurz halten, einige wenige Touristenunterkünfte, einen winzigen Laden und eine grosse Sauna, die auch Gäste benützen dürfen, die mit ihrem eigenen Boot vorbeikommen und in der Bucht ankern.
«Nicht alle sprechen Englisch hier», gibt unsere Inselbegleiterin Monica zu bedenken. Sie hat uns in die Kirche gebeten, den einzigen windgeschützten Raum mit vielen Sitzgelegenheiten. Über unseren Köpfen schwebt ein filigranes Schiffsmodell mit geblähten Segeln an einem langen Strick zwischen den Lüstern. Gespendet wurde es von Seeleuten, zum Dank für überstandenes Unheil und mit der Bitte um weiteren Schutz auf See. Monicas Mann, wie sie schon weit in den Siebzigern, sei Fischer und habe die Insel selten verlassen, sagt sie. Er spreche nur Finnisch, obwohl es die Mehrheit der Ålander mit dem Schwedischen hält. Sie selber sei ein Grossstadtkind aus Helsinki und habe sich hier bei einem Ausflug mit ihren Kolleginnen aus der Krankenschwesternschule verliebt. «Seither zieht es mich nur noch gelegentlich aufs Festland, wenn ich zum Coiffeur oder zum Arzt muss.» Ihre Einkäufe erledige sie telefonisch. Die Fähre bringt sie dann einmal in der Woche vorbei.
Wieder draussen beim Schiffsanleger verrät mir Monica noch ihr Geheimnis, wie sie das extrem blutige Seehundfleisch geniessbar macht: Sie lasse es drei Tage im Meerwasser liegen. Das nehme ihm den Lebergeschmack. Den Tran der etwa zehn Seehunde, die jeweils im Frühling in den Gewässern um Kökar geschossen werden, mischt der Alleskönner Tore mit dem traditionellen Falun-Ocker, einem Pigment, das als Abfallprodukt in einer grossen schwedischen Kupfermine anfällt, und bemalt damit sein Wohn- und sein Bootshaus. Die allgegenwärtige Farbe ist also nicht nur zur Freude der Touristen da, sie sei der beste und günstigste Wetterschutz, beteuert Tore. Vom selben Rot sind auch die kleinen drehbaren Windmühlen, die hie und da über die Baumwipfel lugen. Doch die sind wirklich nur noch Dekoration. Das Mehl kommt heute, wie fast alles, per Schiff auf die Inseln, in sehr kalten Wintern mit dem Lastwagen über das Eis.
Monicas Erinnerung reicht bis in den Zweiten Weltkrieg zurück, als auf den strategisch günstig gelegenen finnischen Inseln schwedische, russische und deutsche Soldaten stationiert waren. Die Deutschen seien sehr anständig gewesen und hätten beim Heuen geholfen. Vor den Russen dagegen hätten die jungen Mädchen auf der Hut sein müssen. Heute seien die Invasionen freundlicher Natur und beschränkten sich auf die sommerlichen Ferienmonate von Juni bis Mitte August. Kommt man davor oder danach, hat man die zugänglichen Insulaner und ihre pittoresken Eilande praktisch für sich allein. Dann kann man in Ruhe seine Gedanken kreisen lassen, so lange, bis sie den Kern berühren – das simple Wesen des Glücks.
Von Lucie Paska, Bild: Udo Haafke
CHAMPAGNER VOM MEERESGRUND
Im Sommer 2010 erhält der Kellermeister des Champagnerproduzenten Veuve Clicquot Ponsardin in Reims einen Anruf aus Finnland: Zwei Hobbytaucher hätten im Baltischen Meer im Süden der Ålandinseln ein Wrack aus den 1840er-Jahren entdeckt. Die Ladung habe aus Flaschen bestanden, von denen einige wie durch ein Wunder unversehrt geblieben seien. Beim Bergen der Flaschen sei einer der Korken herausgedrückt worden – darauf sei der Schriftzug Veuve Clicquot zu lesen. Umgehend wurde eine Delegation auf die Ålandinseln geschickt. Die Degustation und Analyse des gut erhaltenen Perlweins ergab, dass es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um eine Sendung an den russischen Zarenhof gehandelt haben muss, da die Russen ihren Champagner besonders süss liebten und der geborgene mit viel Zucker versetzt worden war. Die Qualität des 170-jährigen Schaumweins war aber ausgezeichnet.
Dass die zwei Freunde die offene Flasche des unbezahlbaren Tropfens, den sie aus dem kalten Wasser gezogen hatten, austranken, wird ihnen niemand verübeln. Denn mehr als ein paar kurzlebige Schlagzeilen in den lokalen Zeitungen werden sie nicht haben von ihrem Fund. Dieser gehört nämlich dem Staat. Nachdem mehrere Flaschen für bis zu 30 000 Euro versteigert worden waren, besann man sich darauf, dass Staatseigentum nicht einfach so verkauft werden dürfe, und stoppte die Auktionen. Jetzt liegen die Flaschen in einem Safe.
Das französische Champagnerhaus seinerseits weiss den Jahrhundertfund und die als ideal erkannten Lagerbedingungen zu nutzen: Im Jahr 2014 haben die experimentierfreudigen Önologen vor der Insel Skär 450 Champagnerflaschen 50 Meter tief auf den Meeresboden versenken lassen, wo sie die nächsten 40 Jahre reifen sollen – in Dunkelheit, bei einer konstanten Temperatur von 6 Grad, gleichbleibendem Druck und leichter Bewegung. Jedes Jahr treffen sich seither auf einem der winzigen Eilande geladene Champagnerliebhaber, um mit viel Tamtam eine der Flaschen aus dem Meer zu verkosten.