Franz-Josef-Land, die nördlichste Inselgruppe der Welt, war eine der letzten Landmassen, die entdeckt wurden. 1928 sperrte die Sowjetunion das Gebiet. Besuch in einem der abgelegensten Winkel der Erde.
Mit 24 000 PS schiebt sich der russische Eisbrecher «Kapitan Dranitsyn» durch die Eisschollen der Barentsee. Plötzlich tauchen schemenhaft flache, vergletscherte Tafelberge auf. Die moderne Navigations- und Echolot-Ausstattung des 1980 in Finnland gebauten Schiffes hat uns also zielgenau in drei Seetagen vom russischen Hafen Murmansk nach Franz-Josef-Land geführt.
Was muss dieser Anblick vor 143 Jahren für den österreichisch-ungarischen Marineoffizier Carl Weyprecht, den aus Böhmen stammenden Offizier Julius von Payer und ihre Mannschaft bedeutet haben? Die beiden Herren leiteten 1872 bis 1874 die Österreichisch-Ungarische Nordpolexpedition. Sie wollten die Nordostpassage erkunden, gerieten aber vor Nowaja Semlja ins Packeis und trieben mit dem Eis nach Norden ab. Nach zehn Monaten, in denen sie im eiskalten Weiss eingeschlossen waren, öffnete sich am 30. August 1873 die Wolkendecke und die Männer erblickten Land. Sie benannten es nach dem österreichischen Kaiser Franz Josef. Es war die letzte Entdeckung einer grösseren, bis dahin unbekannten Landmasse. Heute gehört die nördlichste Inselgruppe der Welt zu Russland. Der nördlichste Punkt von Franz-Josef-Land, das zwischen dem 80. und 82. Breitengrad liegt, ist gerade mal 940 Kilometer vom Nordpol entfernt.
Auf der Spur erster Polarforscher
Unser erster Landgang führt uns zum Kap Flora auf der Insel Northbrook. Mit Zodiak-Schlauchbooten werden die knapp hundert Passagiere an Land gebracht. Das steile Kap ist berühmt für seine vergleichsweise üppige Vegetation, die auf den Stickstoffeintrag aus den Vogelkolonien in den Felsen zurückzuführen ist. Ansonsten ist die Insel genauso wüstenhaft wie der Rest von Franz-Josef-Land. Auf der Hooker-Insel, eine weitere der insgesamt 191 Inseln des Archipels, steuern wir die geschützte Tichaja-Bucht an. Dort liegt der Rubini-Felsen – ein erstarrter Vulkanschlot, der von Tausenden Dreizehenmöwen, Dickschnabellummen, Eismöwen und Krabbentauchern bewohnt wird.
Während auf dem Schiff das Abendessen serviert wird, fährt der Kapitän in den British Channel, dem wir während der taghellen Nacht nach Nordosten folgen. Unser Ziel ist das Kap Norwegen auf der Jackson-Insel. Dort überwinterten die Polarforscher Fridtjof Nansen und Hjalmar Johansen 1895/96, nachdem sie ihr Schiff, die Fram, im März 1895 verlassen hatten, um auf Skiern und mit Schlittenhunden zum Nordpol zu gelangen. Doch über dem 86. Breitengrad wurden sie durch die Eisdrift zur Umkehr gezwungen. Am 13. August 1895 betraten die beiden Norweger Franz-Josef-Land, ohne zu wissen, wo sie sich genau befanden. Da kein Baumaterial zur Verfügung stand, gruben sie ein Loch in die Erde, über das sie einen Baumstamm legten, der aus Sibirien stammte und am Strand an gespült worden war. Darüber spannten sie Robbenhaut und legten einen Vorrat an Eisbärenfleisch an, um die 128 Tage währende Polarnacht zu überstehen. Obwohl sie sich einen Schlafsack teilten, musste Johansen Fridtjof Nansen mit «Herr Doktor» ansprechen. Erst im Januar bot Nansen seinem Leidensgenossen das Du an.
Wir denken an die beiden Abenteurer, als unser Eisbrecher sich scheinbar mühelos den Weg durch das Packeis bahnt. Vor der Appolonov-Insel lässt der russische Kapitän Anker setzen, mit vier Zodiac-Schlauchbooten besuchen wir eine Walross-Kolonie. 40 Tiere teilen sich eine winzige Eisscholle, ihre warmen Körper dampfen in der kalten Luft. Walrosse waren auf Franz-Josef-Land fast ausgerottet. Doch die Sperrung des Archipels für westliche Schiffe durch die Sowjetunion 1928 war für die Tiere ein Glücksfall. Während sechs Jahrzehnten konnten sich die Bestände erholen. Heute leben wieder an die 2000 Walrosse auf Franz-Josef-Land.
Auf Champ-Island, fast vollständig von Gletschern überzogen, treffen die Passagiere auf ein geologisches Phänomen. Oberhalb des Strandes liegen Steinkugeln, deren Durchmesser von wenigen Millimetern bis zu zwei Metern reichen. Ihr Ursprung liegt im Meer, ihre Ausgangssubstanz ist organisch: Verwesende Lebewesen wurden in weiche Sedimente eingebettet, um sie herum haben sich Mineralien eingelagert, die bei gleichmässiger Stoffzufuhr von allen Seiten zu mehr oder minder perfekten Kugeln verklebten.
Aug in Aug mit dem Eisbär
Wieder in Richtung Süden unterwegs, kurz nachdem wir Newscomb Island passiert haben, bleibt das Schiff plötzlich im Packeis stehen. Maschinenschaden? Ein Gang zum Bug bringt Aufklärung. Hundert Meter vor uns steht ein Eisbär auf dem Eis. Er scheint das Schiff zu fixieren. Langsam schiebt sich der Eisbrecher näher an das grösste und gefährlichste Landraubtier der Erde heran und stoppt dann in fünfzig Meter Entfernung. Jetzt wird der männliche Eisbär selbst aktiv und trottet auf den Bug zu. Er bleibt erst unterhalb des Bugs stehen. Die inzwischen eingetroffenen Passagiere überprüfen im Geist die Höhe und Stabilität der Bordwand. Kein Wunder, der Abstand zu dem gewaltigen Tier beträgt keine drei Meter mehr. Der Bär ist neugierig, läuft die Bordwand auf und ab, trottet aufs Eis hinaus und kehrt wieder zum Schiff zurück. Plötzlich richtet er sich vor der Bordwand auf und steht drei Meter hoch vor uns. Den Anwesenden läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Nirgendwo auf der Erde lassen sich Polarbären besser im Packeis beobachten als in Franz-Josef-Land. Am Ende der Reise werden es zwölf Begegnungen mit Eisbären gewesen sein. Als wir in den Negri-Kanal, eine natürliche Meeresenge zwischen der Hall- und McClintock-Insel einfahren, hängt Nebel über den Gletschern. Der Himmel ist tiefblau, im Wasser treiben kleinere und grössere Eisberge, die im Dunst auftauchen und wieder verschwinden. Die nächste Anlandung ist am Kap Tegetthoff auf der Insel Hall geplant, dem landschaftlich markantesten Punkt von Franz-Josef-Land. Vor dem Kap stehen zwei Basalttürme exponiert am Strand.
Während die letzten Vorbereitungen für die Anlandung getroffen werden, beobachte ich das Wetter aufmerksam. Ich chartere den bordeigenen Helikopter und sitze Minuten später dick eingepackt und fest angeschnallt im Heli, der vom Achterdeck des Eisbrechers aufsteigt. Aus 500 Metern Höhe gibt es dann endlich einen Überblick über die Insel- und Gletscherwelt von Franz-Josef-Land. 85 Prozent der Landfläche sind noch vereist, wenn auch hier der Klimawandel zu einem dramatischen Rückgang der Gletscher führt. Eine faszinierende Landschaft aus Schnee und Eis, mit Farben von Weiss über Türkis bis Tiefblau, mit Gletschern, die ins Meer brechen, und treibenden Eisbergen.
Text und Bilder Michael Martin
Michael Martin ist Fotograf und Autor. Fasziniert von den Wüsten der Erde hat er ihnen mit «Planet Wüste» einen eindrücklichen Bildband gewidmet. Die eisfreien Regionen von Franz-Josef-Land sind polare Kältewüsten. Martin hält regelmässig Vorträge in der Schweiz.