Wenn im September in Graubünden die Jagd ruft, bleibt mancher Arbeitsplatz leer. Umso voller sind dafür die Gefrierschränke – nicht nur mit Wild, sondern bei Liebhabern auch mit Munggenfleisch.
Proxima fermeda Scuol-Tarasp: Endhaltestelle der Rhätischen Bahn. Doch die feinen Kapillaren des schweizerischen ÖV-Netzes erschliessen auch die tiefsten Furchen des felsigen Landesgewebes, und kaum hat man die kleine Rote verlassen, steht ein paar Atemzüge erfrischender Unterengadiner Bergluft später schon das gelbe Postauto für die Weiterfahrt bereit. Es schlängelt sich durch Neu-, Alt- und Agglo-Scuol, überquert tief im Talschatten den Inn und nimmt eine steile, dicht bewaldete Bergflanke in Angriff.
Die engen Serpentinen enden erst in einer Höhe, wo die Bäume zu schrumpfen beginnen und den Blick freigeben auf sich hochtürmende graue Felskegel. Wie ein Schraubstock schliessen sie sich von links und rechts um die enger werdende Strasse. Aus steilen Couloirs quellen massige Schuttfelder. Der sintflutartige Regen des vorletzten Sommers hatte Gerölllawinen ausgelöst, die grosse Teile der Strasse unter sich begruben. Fahrzeuge kamen zu Schaden, Menschen mussten von der Rega evakuiert werden. Wochenlang räumten Bagger die Steinmassen beiseite. Die dramatischen Ereignisse von damals haben eine spektakuläre Landschaft hinterlassen.
Idylle und Realität
Wo die Teerstrasse endet, im lieblichen S-charl, wendet der Bus am beblümten Dorfbrunnen: Hier ist tatsächlich Endstation. Eine Kapelle, eine Handvoll Häuser, zwei Gaststuben. Weiter talaufwärts geht es nur noch zu Fuss oder mit dem Bike, abgesehen von den Bauern, die mit Pick-ups und flachen Anhängern ihren Anteil an Käse und Butter holen, den die Sennen im Sommer aus der Milch ihrer Kühe hergestellt haben. Je später der Morgen, desto bunter werden die mit Wanderstöcken oder Velohelmen bewehrten Menschengruppen, die aus den beiden Herbergen tröpfeln. Die Gämsenjäger sind um diese Zeit schon zurück, und das erlegte Wild hängt ausgeweidet im Schopf hinter dem Haus. Die Murmeltierjäger dagegen können es gemütlich angehen lassen, denn die Tiere sind den ganzen Tag aktiv. So mischt sich unter die Ausflügler gelegentlich ein grün-beiger Gewehrträger auf dem Mountainbike. Walter Casura aus Sent ist einer der erfahrensten unter ihnen und zudem der bekannteste Murmeltierkoch weit und breit. Munggenfleisch war bei seinen Eltern zu Hause eine Delikatesse: «Als Kinder haben wir uns immer darum gestritten, wer den Kopf aus dem Eintopf haben durfte», erinnert er sich.
Acht Munggen darf ein Jäger in Graubünden pro Saison erlegen. Doch nur die wenigsten verarbeiten sie selber. Viele tauschen sie in einem Restaurant gegen ein grosses Bier – zu viel Arbeit, zu wenig Ertrag. Besonders begehrt ist ihr Fett, aus dem zahlreiche Kleinbetriebe Crèmes und Massageöle herstellen. Walter hat für seine Munggen feste Abnehmer in der Region. Während er erzählt, füllt er seinen Patronenhalter mit Munition wie für Grosswild. Das sei Vorschrift, erklärt er. Solche Patronen flögen schneller und ihre Durchschlagskraft sei grösser als bei kleinerer Munition. An einer der baumlosen Talflanken etwa auf halber Strecke im Val S-charl macht er einen hellen Fleck aus. Es ist der frische Aushub vor einem Murmeltierloch. Vorsichtig pirscht Walter sich näher an den Bau heran. Vom Wanderweg aus beobachtet ihn eine Familie mit ihren Ferngläsern und diskutiert aufgebracht über das Für und Wider der Jagd. Als der Schuss fällt, wenden sich einige Kinder ab, andere würden das Tier gerne von Nahem sehen, sein Fell berühren, beim Ausnehmen zuschauen. Doch die Eltern drängen zum Weitergehen. Abends gibt es wahrscheinlich Poulet, Hamburger oder Fischstäbli – von Tieren, denen niemand eine Träne nachgeweint hat.
Tradition mit strengen Regeln
Nach dem Schuss wird jedes Tier an Ort und Stelle ausgeweidet: Mit Latexhandschuhen bewehrt, trennt Walter sorgfältig jedes Organ heraus. Eine Kunst, die von Respekt und Können zeugt. Ein kleines Häufchen von nicht Essbarem, wie Lunge, Magen und Darm, bleibt für die Füchse und Dohlen liegen. Der Rest wird, säuberlich nach Fleischart in Plastiksäckchen aufgeteilt, im Rucksack verstaut. «Die Regeln, was, wann und wie während der Jagd erlaubt ist, sind so streng und die gegenseitige Kontrolle innerhalb der neidischen Jägerzunft so gross, dass Frevel und unweidmännisches Verhalten schnell auffliegen», gibt Walter zu bedenken und packt sein «Büro» aus. Jeder Abschuss wird zeitnah und peinlich genau auf einem Formular registriert, damit es keine Scherereien mit dem Jagdaufseher gibt. Der ist um diese Zeit noch aufmerksamer als sonst.
Der Munggenjäger muss keine grossen Strecken zurücklegen. Die Bergwiesen sind perforiert von den fleissigen Nagern. Eine halbe Stunde nach dem Schuss tauchen schon wieder ein paar Köpfe auf. Die Neugierde ist stärker als die Angst und so ist Walters Kontingent bis am Abend ausgeschöpft. Zum Glück geht es auf dem Rückweg abwärts, denn mit acht Tieren und dem Gewehr auf dem Rücken kommt ein beträchtliches Gewicht zusammen. Für das Abendessen hat Walter noch Munggen vom Vorjahr zubereitet, das dunkle Fleisch in viel Wurzelgemüse und Wein mariniert und lange gegart. Zu der nicht alltäglichen Delikatesse gibt es Spätzli und Rotkraut mit Kastanien. Und zum Schluss einen Jägermeister.
Text: Lucie Paska
Bild: Swiss-image.ch/Max Galli