Das Bergdorf Olympos auf Karpathos ist ein mythischer Ort. Hier lebt man wie vor hundert Jahren, sagen die Griechen, hier wird das Ursprüngliche bewahrt. Und die Zeremonie des heiligen Osterfestes wird ins ganze Land übertragen.
Es ist wahr, dass die älteren Frauen noch immer Tracht tragen, dass sie noch immer selber Brot für die Familie backen, weil Brot kaufen als würdelos gilt, dass viele Bräuche noch immer lebendig sind. Es ist aber auch wahr, dass sich vieles verändert. Junge wandern aus, nach Amerika, nach Australien und kehren höchstens für einen Urlaub zurück. Die Leute von Olympos gehen auf einem schmalen Grat zwischen Tradition und Moderne und versuchen dabei, ihre Würde nicht zu verlieren.
Aber dann, am späten Nachmitttag, scheint ein zorniger Intendant mit den Fingern zu schnippen und die Statisten, die unbeholfenen, von der Bühne zu scheuchen. Die Touristen sind weg, alle aufs Mal. Steigen in ihre Cars und verschwinden. Vor morgen Mittag kommt keiner mehr. Das Dorf wird still, so, wie es immer gewesen ist. Kinder spielen in den Gassen, Männer murmeln vor den Cafés, aus den Häusern klingen die Stimmen der Frauen, von den steilen Hängen bimmeln die Glocken der Ziegen und Schafe. Der Wind faucht. Ein Hahn schmettert. Weit unten schimmert das Meer.
Es ist der Abend vor dem grossen Fest. Die Leute von Olympos werden nach Vourkoúnda ziehen, zu diesem magischen Ort am Nordwestkap der Insel, zu Fuss, mit Booten, und ein paar noch immer mit Eseln. Sie werden das Fest Johannes’ des Täufers feiern, sie werden den orthodoxen Gesängen des Popen lauschen, sie werden essen und trinken; die jungen Frauen werden ihre wunderbar schimmernden Festgewänder anziehen, sie werden die ganze Nacht die uralten Tänze tanzen zu den Klängen von Lyra, Laute und Dudelsack. Sie werden unter sich sein. Fast.
Kalliópe. Anmutig geht sie durchs Dorf, treppauf, treppab, aufrecht, geschmeidig, mit einem federleichten Lächeln. Als würde sie Dinge sehen, die andern verwehrt sind. Eine junge Frau aus dem Dorf. Lebt nicht mehr hier, ist zurückgekommen zum Fest. Ich will sie Kalliópe nennen, Kalliópe die Schönstimmige, die Vornehmste unter den Musen. Denn sie lächelte nur, als ich sie nach ihrem Namen fragte. Was ist ein Name? Und ich dachte: Sie hat tausend Namen. Sie ist während Hunderten von Jahren durch die Gassen geschritten, durch diesen Fluchtort Olympos, Flucht vor den Mauren, Sarazenen, Venezianern, Osmanen, Italienern, Deutschen, Flucht vor den Piraten und den Eroberern. Sie lächelt wie aus einer anderen Zeit.
An diesem Abend sagt sie: Komm! Über steile Stufen betritt sie den Wohnraum ihrer Freunde. Beim traditionellen Hochbett, dem Soufá, das noch in manchen Häusern steht, sitzt die Grossmutter in der weissen Arbeitstracht, mit Ziegenlederstiefeln an den Füssen. Die Mutter trägt ein schulterfreies Top und schaukelt ihr Kind. Es schläft in einem Wolltuch, das am Haken von der Decke des Soufás schwingt, Wiege und Tragtuch zugleich, denn auf den Treppen von Olympos kommt man mit einem Kinderwagen nicht weit. Irgendwo plärrt ein Fernseher. Siehst du? sagt sie. Das Alte und das Neue. Dieses Dorf braucht beides, wenn es überleben will. Es geht um Balance. Verstehst du?
Fluchtsiedlung und Mythos
Kanakará. In Olympos sind die ersten Häuser vor tausend und mehr Jahren an die Ostflanke eines steilen Berghangs gebaut worden. Vom Meer, von Westen her, waren sie nicht zu sehen; sie durften nicht einmal Kamine haben, damit der aufsteigende Rauch sie nicht verriet. Es war eine Fluchtsiedlung für die Menschen in den noch viel älteren, längst verfallenen Orten Vourkoúnda oder Vrykoús, von den Dorern gegründet, und Trístomos. In ihrer Mundart haben die Leute von Olympos viele dorische Wörter bewahrt, und auch in ihrem Aussehen, in ihren Sitten und Bräuchen unterscheiden sie sich von den Karpathioten im Süden. Sie haben viele hundert Jahre für sich gelebt; Verbindung zum Süden gab es nur auf Saumpfaden oder übers Meer. Die Strasse, die diesen Namen lange nicht verdiente, wurde erst 1979 gebaut, und erst 1980 wurden Telefon- und Stromleitung ins Dorf gezogen.
Noch immer tragen ältere Frauen die Arbeitstracht mit den gestickten Borten, und sie tun es nicht für die Touristen, noch immer backen sie die mächtigen Laibe ihres kräftigen dunklen Brotes in den Dorfbacköfen. Wenn die älteste Tochter heiratet, die Kanakará, was ungefähr «die Verhätschelt» bedeutet, bekommt sie nach dem alten Erbrecht von Olympos den grössten Teil von dem, was die Mutter in die Ehe mitgebracht hat – vor noch nicht langer Zeit hat sie alles geerbt, denn nirgendwo wie hier sind die alten Sitten so lebendig. In Olympos, sagen die Griechen, wird das Griechische bewahrt. So haben die Griechen vor vielen Jahren gelebt, sagen sie und schauen sich jedes Jahr im Fernsehen die Riten des olymbitischen Osterfestes an, als könnten sie ihnen das ersetzen, was sie selber verloren haben. Olympos. Ein Traum von Griechenland. Ein Mythos.
Doch Olympos droht auszusterben. Vor fünfzig Jahren noch haben hier fast zweitausend Leute gelebt; jetzt sind es vierhundert. In der Schule sind zweihundert Kinder unterrichtet worden; jetzt sind es achtzehn. Die Olymbiten sind ausgewandert, nach New York, nach Baltimore. In einem Jahr sterben vielleicht zehn Menschen und zwei kommen zur Welt, und immer wieder zieht jemand weg. Das Leben ist hart in Olympos, es gibt wenig Arbeitsplätze, und auf eine wirklich befahrbare Strasse, die das Dorf mit den andern Orten der Insel verbinden würde, in denen sie arbeiten könnten – auf diese Strasse mussten die Olymbiten lange Jahre warten.
Níkos. Was bleibt? Tourismus, sagt Ní-kos, was denkst du denn. Níkos Filippákis hat zehn Jahre in New York gelebt, ist zurückgekommen und führt mit seiner Frau María ein kleines Hotel und eine Taverne am Dorfplatz. Da sitzen die Männer und warten, bis der Meltémi die allzukurzen Röcke der fremden Frauen noch höher weht. Aber manchmal, spotten sie, ist es besser, wenn der Wind nicht bläst.
Tourismus, sagt Níkos. Die neue Strasse wird uns Gäste bringen, die über Nacht bleiben. Das tat bisher fast keiner, sie mussten alle punkt halb vier wegfahren mit dem Car, runter zum Hafen und von da mit dem Schiff zu den Touristenorten auf der Insel. Dort gaben sie Geld aus, bei uns kaum.
Aber was wird geschehen, wenn die Besucher rund um die Uhr das Dorfleben mitbestimmen? Wenn es diese Pause nicht mehr wirklich gibt, in der die Leute von Olympos zu ihrem eigentlichen Rhythmus finden? Werden sie dann noch immer abends in den Kafenía zu den Instrumenten greifen und zu ihrem eigenen Vergnügen die wunderbare Musik von Olympos spielen? Ich weiss, sagt Níkos. Die Touristenfalle. Wenn immer mehr Touristen kommen, ist unsere Lebensart gefährdet, und wenn diese verschwindet, kommen die Touristen vielleicht nicht mehr. Wir haben keine Wahl.
Níkos macht sich Sorgen, und manchmal wird er richtig wütend. Viele Leute haben keinen Respekt, sagt er. Die wissen ganz genau, wohin sie fahren, und trotzdem spazieren sie in der Badehose durchs Dorf, das Handy in der einen, die Kamera in der andern Hand, wo sind die Eingeborenen, und sieh mal, sie tragen tatsächlich Tracht. Dann kommen sich viele von uns wie Kamerafutter vor, und manche verschwinden in ihren Häusern.
Beschwerliche Wanderung
Káto Chóros. Aber heute ist der Tag des Festes. Frauen, Männer und Kinder wandern mit Schlafdecken, Taschen und Bündeln über den steil abfallenden Geröllweg zur Landzunge von Vourkoúnda. Es ist über vierzig Grad, und der Marsch dauert zwei Stunden. Auf dem Felsplateau ist der Festplatz vorbereitet. In Kesseln dampfen Reis und Fleisch, auf den Tischen steht Retsína. In der Felsenkirche des Täufers brennen Kerzen. Immer mehr Leute kommen; vor zwanzig Jahren noch sollen sie mit zweihundert Eseln hergezogen sein, jetzt sind es noch fünf oder sechs der Tiere. Es gibt kaum Touristen, der Weg ist zu anstrengend. Ein paar junge Männer, Ausländer, hängen in den Felsen, schlagen Haken ein, befestigen ihre Hängematten und wollen nicht verstehen, dass sie das an diesem Ort nicht tun sollen. Da geht ein Mann aus Olympos auf sie zu und sagt mit grosser Würde: Ihr seid willkommen. Wir freuen uns, wenn ihr unsere Gäste seid. Doch ihr versperrt einen Weg, den unsere Frauen seit tausend Jahren gehen, wenn sie sich umziehen. Versteht ihr das? Die Touristen verstehen nicht. Das Fest ist ihnen gleichgültig. Ein Snack, der sich anbot, mehr nicht. Vor solchen Dingen fürchtet sich Níkos.
Tanzen bis zur Trance
Unter dem gewaltigen Sternenhimmel erklingt plötzlich Musik, rhythmisch und klagend. Die Frauen tragen ihre bunten Gewänder, schmücken sich mit Ketten aus Goldmünzen, denn das Fest ist auch ein Heiratsmarkt, man soll sehen, wie wohlhabend sie sind. Sie fassen sich an den Händen und beginnen einen Tanz, der Káto Chóros heisst, langsam, monoton, und wieder ist es, als würden Bilder und Klänge heraufgeschwemmt aus einer vergangenen Zeit. Sie tanzen bis zum Morgengrauen, Männer und Frauen, manche wie in Trance. In dieser Nacht scheint es undenkbar, dass die Kraft, zu bewahren, was sich zu bewahren lohnt, versiegen könnte.
Beim ersten Tageslicht drückt Kalliópe einem grossen Burschen einen flüchtigen Kuss auf die Wange, schwingt ihr Bündel über die Schulter und geht den Felsenweg hoch, federnd, mühelos. Balance, hat sie gesagt. Vielleicht wusste sie nicht, dass es Leute gab, die eine Strasse zu diesem verzauberten Ort planten.
von Ernesto Scagnet