Auf einem Hurtigruten-Schiff der Küste Norwegens zu folgen, bedeutet Reisen in seiner entspannendsten Form.
Die Nordnorge überquert die unsichtbare Linie kurz nach sieben Uhr morgens. Nichts passiert. Die Luft bleibt gleich kalt und trocken, das Meer ist immer noch ruhig, die Berge am Ufer karg und schneebedeckt. Unbeirrt pflügt sich das Schiff im dunklen Wasser vorwärts. Die Moto ren brummen gleichmässig, der Fahrtwind pfeift wie schon in all den Stunden vorher. Trotzdem ist dieser Moment für viele Passagiere an Bord ein Ereignis: Sie sind soeben über den nördlichen Polarkreis gefahren. Den Breitengrad 66° 33’ Nord auf der Erdkugel, über den es die Sonne im Winter nicht schafft und wo sie dafür im Sommer nicht mehr untergeht. Die Nordnorge ist im Polargebiet angekommen. In der Region von Mitternachtssonne und Nordlicht, dem Gebiet der Arktis. Ein Hauch von Abenteuer liegt in der Luft. Eine unsichtbare Linie wird zum Erlebnis.Bis in die Arktis wird die Nordnorge allerdings nicht fahren. Sie folgt der Küste Norwegens und wird in Kirkenes an der Grenze zu Russland wenden. Die Nordnorge gehört zur Reederei Hurtigruten, deren Schiffe die gleichnamige Strecke zwischen Bergen im Süden und Kirkenes im Norden Norwegens bedienen. Hurtigruten verbindet die beiden Städte mit einer Reise durch eine zauberhafte Fjordlandschaft, bei der Gedanken, Geschichten und Ideen den gleichen Platz einnehmen wie andernorts die grössten Museen und die verrücktesten Einkaufsstrassen. Denn die Ruhe reist mit bei Hurtigruten.
To-do-Listen versenken
Dabei lässt der Name allein auf etwas ganz anderes schliessen. Hurtigruten heisst auf Deutsch soviel wie «Schnellstrecke». Ein «Eilkurs», der mit einer Höchstgeschwindigkeit von 18 Knoten, also rund 33 Stundenkilometern, an der Landschaft vorbei zieht. Sechseinhalb Tage brauchen die Hurtigruten-Schiffe für die rund 2500 Kilometer nordwärts. Schnell ist anders. Doch in einer Küstenregion, die so zerklüftet ist, dass der Landweg lang und beschwerlich wird, ist ein Schiff praktisch.Schon 1893 wurde deshalb ein regelmässiger Schiffsliniendienst an der Küste Norwegens in Betrieb genommen. Der Handel mit getrocknetem Fisch sollte vorangetrieben sowie der Süden und der Norden des Landes näher zusammengeführt werden. Damals bedeutete die Verbindung für die Menschen in den entlegenen Regionen eine Sensation. Briefe kamen schneller zu den Liebsten, Waren konnten transportiert werden, ein neues öffentliches Verkehrsmittel stand zur Verfügung.Bis heute sind die Hurtigruten Post-, Fracht- und Passagierschiffe. Vor allem aber sind sie auch eine Touristenattraktion: Auf keine andere Weise lässt sich die norwegische Küste so gut entdecken, der norwegische Geist so gut erleben. Jeden Tag verlässt ein Schiff den Hafen in Bergen und bricht auf in den Norden, um zwölf Tage später wieder zurückzukehren mit Reisenden an Bord, die ihren Stress scheinbar in einem der engen Fjorde abgestreift, To-do-Listen im tiefen Wasser versenkt haben und dafür um viele Eindrücke – und Fotos – reicher sind. Auf der Nordnorge stehen auf dieser Reise jeden Tag Männer aus Deutschland, Italien und Holland mit Kameras in allen Grössen und Variationen an Deck und versuchen, Orte wie die Lofoten abzubilden, den Zauber des Trollfjordes und die Magie des Polarkreises einzufangen. Ältere Paare unterhalten sich, Frauen wärmen sich an diesen Frühlingstagen die klammen Finger an Tee- und Kaffeetassen. Nachmittage lang wird in das Wasser gestarrt in der Hoffnung, kleine Wale zu sichten. Mit etwas Glück und zur richtigen Jahreszeit lassen sich im Verlauf der Reise auch Schwertwale blicken. Die Chance, Seeadler und Papageientaucher beobachten zu können, ist aber wohl grösser.
Städte im Niemandsland
Doch auch wenn solche Begegnungen mit Tieren besonders herbeigewünscht werden – die Landschaft, die sich zeigt, ist nicht weniger beeindruckend. Nach Bergen noch eher lieblich und sanft, sind die Küstenstreifen je höher im Norden desto markanter und wilder. Felsen mit zerklüfteten Wänden, in denen sich im Frühling noch Schnee hält. Frühmorgens oder wenn Wolken am Himmel hängen, beschränken sich die Farben auf blaue, schwarze und weisse Töne, was das Markante unterstreicht und an ein melancholisches Gemälde erinnert. An einigen Stellen sind die senkrechten Wände zum Anfassen nahe. Wenn die Nordnorge sich durch den Geiranger-Fjord schlängelt zum Beispiel. Manchmal weitet sich der Blick für ein Panorama, das dem Begriff Weite eine neue Dimension verleiht. Einzelne Häuser auf Landzungen verschwinden trotz der typisch kräftigen Farben fast vor dieser Kulisse. Dann wieder tauchen überraschend Städte auf. Wenige Kilometer weiter erinnert nichts mehr an die Zivilisation. Schon möglich, dass hinter den Gipfeln, in einsamen Wäldern und Tälern, Trolle wohnen.
Warmes Wasser im hohen Norden
Phantasie wechselt sich ab mit wissenschaftlichen Fakten. Auf ihrem Weg nach Norden folgen die Schiffe von Hurtigruten dem Golfstrom. Ohne seine warmen Wassermassen würde die norwegische Küste aussehen wie andere Gebiete auf gleichen Breitengraden: In Grönland, Labrador oder Nordkanada ist ein Leben wie in Norwegen nicht vorstellbar. Selbst im tiefsten Winter sind die Fjorde im höchsten Norden dank dem Golfstrom eisfrei. Das war nicht immer so. Geformt wurde diese einzigartige Landschaft durch sich zurückziehende Gletscher, die riesige Kluften und Täler in die Berge geschliffen haben. Diese Fjorde ziehen sich so weit ins Landesinnere, dass das Wasser oft eher an einen Fluss oder See erinnert als an den Ozean.Solche Szenen, die Natur und ihr Werk spielen die Hauptrolle auf Hurtigruten. Davon lenkt auch an Bord nichts ab. Anders als auf Kreuzfahrtschiffen gibt es kein Unterhaltungsprogramm, kein Kino oder eine Auswahl von Bars. Gegessen wird im immer gleichen Restaurant, die Kabinen sind schlicht und praktisch. Die geheizten Whirlpools auf Deck 6 der Nordnorge wirken in dieser Umgebung fast ein bisschen fremd. Lieber als im heissen Wasser sitzen die Gäste warm eingepackt auf einem Liegestuhl an Deck oder in der Panorama-Lounge. Dort werden dem Gefühl nach ganze Pullover gestrickt und Unmengen Kreuzworträtsel gelöst. Im Gang, im Café und der Lounge wird oft norwegisch gesprochen. Der grösste Teil des Personals kommt aus Norwegen. Davon zeugen so klingende Namen wie Geir A. Johannessen, Kirsten Eines Vinje und Asbjorn Dalan. Aber auch viele Passagiere sind Inlandtouristen. Eine Norwegerin ist mit ihrer erwachsenen Tochter unterwegs. Sie habe sich mit dieser Reise einen Traum erfüllt, sagt sie. «Wir wohnen im Norden Oslos, wo Wald und nicht das Meer vorherrscht.» Norwegerinnen, die ihre Heimat und deren Geschichte kennenlernen möchten. Die beiden Frauen freuen sich vor allem auf das bekannte Wikinger-Museum auf den Lofoten.Weiter angereist ist ein Paar aus Südengland. Sie ist in ihrem Sessel in ein Buch vertieft, er blickt, die Hände gefaltet, stumm und nachdenklich in die Berge, die sich vor dem Fenster präsentieren. Die Landschaft erinnere ihn an Schottland, sagt der feine Herr. Mit ausgewählten Worten erzählt er von seinem Leben, seinem Beruf als Zahnarzt, seiner Leidenschaft für Italien. Zeit ist keine Mangelware an Bord. Nur auf den Vergleich von Kreuzfahrten und Hurtigruten angesprochen, antwortet er direkt und unverblümt: «Ich hasse Kreuzfahrten. Das hier ist etwas ganz anderes, hier geht es nicht um billiges Sightseeing und Touristenmassen.»
Der schnellere Bus
Tatsächlich sind die Touristen nur der kleinere Teil der Passagiere auf den Hurtigruten-Schiffen. Die meisten Gäste nutzen die Schiffe als öffentliches Verkehrsmittel, um von ihrem Dorf zum nächsten Arzt zu kommen, Verwandte zu besuchen oder einzukaufen. An jedem der über dreissig Häfen, die ein Schiff auf der nordgehenden Route anfährt, werden Waren ein- und ausgeladen, steigen Passagiere ein und aus oder kommen Ortsansässige an Bord, um jemanden von der Besatzung zu grüssen. Im Bauch des Kolosses verschwindet alles, was in den abgelegeneren Regionen des Landes nicht zu bekommen ist: Bestellte Möbel, Nahrungsmittel und Handwerks-Material. Die Hafenaufenthalte werden von den Touristen gerne genutzt, um auch das Hinterland zu entdecken. Bei einem Stadtrundgang mit witzigen Stadtführern, Fischern auf einem Angelausflug oder einem Besuch bei den Samen können sie mehr über Norwegen und seine Bewohner erfahren. Die Samen übrigens nennen sich selbst die «Erstgeborenen» in Skandinavien und haben die jahrtausende alte Tradition des Nomadentums erhalten. Sie sind im nördlichsten Teil Norwegens zu Hause. Der Region, der sich die Nordnorge mit dem Überqueren des Polarkreises nähert. Die magische, unsichtbare Linie.
Von Stefanie Schnelli
Schiffsreisen, Kreuzfahrt, Cruise, Schiff