Der Schweizer Architekt Le Corbusier setzte seine Vorstellungen einer Idealstadt in Nordindien um. Urbanes Chaos ist in Chandigarh nicht vorgesehen – untypischer kann Indien nirgendwo sein.
Ausgerechnet auf dem Hauptplatz der Stadt ist es gespenstisch leer und still. Zwischen den Monumentalbauten des Regierungsviertels im Capitol Complex von Chandigarh erstreckt sich ein Meer von Betonplatten soweit das Auge reicht. Keine Händler, keine Strassenverkäufer, kein Müll, keine Kühe, kein Lärm, also nichts, was für Indiens Städte sonst so typisch wäre. Wie verlassen wirken die Gebäude aus rohem Sichtbeton mit ihren wuchtigen Formen und plastisch modellierten Fassaden, in denen Parlament, Gericht und Ministerien untergebracht sind. Ursprünglich hatte Le Corbusier den Platz als belebte Piazza geplant, heute fühlt man sich hier wie in einem Endzeitfilm. Nur die Skulptur der offenen Hand, die zum Wahrzeichen Chandigarhs geworden ist, erinnert bisweilen an Picassos Friedenstaube. Bizarr auch das, denn nach dem tödlichen Attentat auf einen Politiker vor dem Sekretariatsgebäude darf seit 1995 niemand mehr den Capitol Complex ohne Genehmigung betreten. Touristen erhalten einen Passierschein, wenn sie sich mit ihrem Pass im Besucherzentrum angemeldet haben.
Fortschrittlich, modern, offen
Will man dann nicht völlig ratlos vor Le Corbusiers monströsen Betonbauten stehen, die seit 2016 zum Unesco-Welterbe gehören, lohnt für eine kompetente Einschätzung zuvor ein Besuch bei Architekturprofessor Parmeet Singh Bhatt im örtlichen Architektur-College. Von ihm erfährt man, dass Chandigarhs westlich orientierte Ästhetik mit der Teilung Indiens nach dem Abzug der Kolonialmächte zu tun hat, bei der Lahore, die ehemalige Hauptstadt des Punjab, 1947 Pakistan zugesprochen wurde. Für Ministerpräsident Jawaharlal Nehru sollte deshalb Chandigarh als zukünftige Hauptstadt des Bundesstaates ein Symbol für das neue, demokratische Indien werden: fortschrittlich, modern und offen. Eigenschaften, wie man sie vor allem Europäern zuschrieb. Und so konnte 1951 der in Paris lebende Schweizer Architekt Le Corbusier seine Vorstellung von der idealen Stadt in die Realität umsetzen. Städtebauliche Restriktionen gab es keine, denn der Landstrich war weitgehend unbebaut. Auch die Bewohner der Stadt, heute grösstenteils gut verdienende Beamte, die für die Verwaltung der beiden Bundesstaaten Haryana und Punjab arbeiten, wurden erst später angesiedelt. «Es ist völlig unerheblich, ob es einem gefällt oder nicht, denn es ist ein Schlag auf den Kopf, es bringt einen zum Denken und das, was Indien in so vielen Bereichen braucht, ist ein Schlag auf den Kopf», dachte Nehru über Chandigarh.
Im Eingangsbereich des Architektur-Colleges ist Parmeet Singh Bhatt dann vor einem grossen Stadtplan Chandigarhs ganz in seinem Element und erklärt, wie Le Corbusier die Stadt streng in mehr als sechzig Sektoren gerastert und ihren weitläufigen Grundriss einem menschlichen Körper nachempfunden hat. Die Staatsgebäude im Capitol Complex bilden den Kopf, das Stadtzentrum bildet das Herz, die Freiflächen der Parks die Lungen und das verzweigte Strassennetz von der Hauptstrasse bis zum Fussweg den Blutkreislauf. Es ist ein perfekt ausgeklügeltes Wegsystem, das längst in vielen anderen Städten kopiert wurde, weil es der Stauvermeidung dient. «Absolut neu für indische Verhältnisse war die strenge Trennung von Wohnen, Arbeiten und Erholen in jeweils eigenen Sektoren», sagt der Architekturprofessor. Dann deutet er auf die einzelnen Wohnsektoren, um zu zeigen, dass diese wie ein kleines Dorf innerhalb der Stadt völlig autonom funktionieren, weil sie über eigene Basiseinrichtungen wie Schule, Markt, Restaurants und lokale Ärzte verfügen. Ihrer beruflichen Stellung entsprechend werden den Beamten auch heute noch ausschliesslich Wohnungen in unterschiedlichen Häusermodellen von der Villa bis zum Wohnblock zugewiesen.
Umstrittenes Menschenbild
Ein Menschenbild, das Stadtbewohner streng nach ihrer gesellschaftlichen Wertigkeit sortiert, gilt bis heute als höchst umstritten. Le Corbusier, dessen Planstadt ein totalitärer Charakter nicht abzusprechen ist, wurde von Kritikern bisweilen auch die Nähe zu faschistischem Gedankengut nachgesagt. Ikone der kompromisslosen Modernität oder Faschist? An Le Corbusiers Architekturtheorie der Idealstadt kann man vor allem sehen, wie eng der Traum vom neuen Menschen und seiner Emanzipation mit seiner Unterdrückung und Ausbeutung zusammenhängt – und wie schnell das eine in das andere umkippen kann.
Dass Le Corbusiers Konzept bei den Indern so gut ankam, die ihre Stadt auf dem Ortsschild ganz offiziell «The City Beautiful» nennen, liegt nach Meinung des in Chandigarh geborenen Architekten Zafar Choudhary auch daran, dass herausragende Individualität in Indien generell gesellschaftspolitisch wenig gefragt sei. Die architektonische Entwicklung seiner Geburtsstadt betrachtet Choudhary, der sein Architekturstudium 1992 bei Parmeet Singh Bhatt abgeschlossen hat und heute mit Habitat Architects in Ludhiana ein international erfolgreiches Architekturbüro betreibt, eher pragmatisch. «Die Bewohner passen die Häuser inzwischen ihren neuen Lebensverhältnissen und Lebensgewohnheiten an. Sie bauen Klimaanlagen ein, errichten Sicherheitszäune und schaffen Parkplätze für ihre Autos», sagt Zafar Choudhary. Das Raumkonzept von einst vorgeschriebenen 60 Prozent Baumasse zu 40 Prozent Grünfläche wecke bei einer stetig wachsenden Einwohnerzahl, die gerade auf eine Million zusteuert, ohnehin Begehrlichkeiten, mehr zu bebauen. Das könnte vielleicht sogar eine Chance sein, das System von Le Corbusier weiterzuentwickeln, statt es nur museal zu konservieren.
Allerdings scheinen selbst Inder Probleme damit zu haben, ein wenig wohltuendes Chaos in die strenge Ordnung Chandigarhs zu bringen. Gelungen ist das einem ehemaligen Strasseninspekteur im «Rock Garden» neben dem Capitol Complex. In den 1960er-Jahren hatte Nek Chand hier begonnen, den Müll der Stadt zu recyceln – erst heimlich, später offiziell geduldet. Das auf fünf Hektar angewachsene Labyrinth mit surrealen Figuren und Mosaiken aus zerbrochenen Tassen, Tellern, Steckdosen und Glasarmreifen erinnert ein wenig an die Werke Antoni Gaudís. Für viele ist der Rock Garden ein willkommener Gegenentwurf zur streng durchkonzipierten Stadt. Und Nek Chand hat ihn Chandigarh idealerweise gleich direkt in den Kopf gepflanzt.
Text: Margit Kohl
Bild: Figuren im Rock Garden von Nek Chand, iStock