Im indischen Gir-Schutzgebiet hat der Asiatische Löwe bis heute überlebt. Die einheimischen Viehzüchter leben seit Jahrhunderten friedlich mit dem König der Tiere zusammen.
Der Vollmond steht noch übergross und silbermatt über den Teakbaumkronen, als der Wächter das Tor zum Wald von Gir öffnet. Im dichten Unterholz hängt der Dunst der kühlen Nacht. Aus dem Dickicht recken sich die blattlosen, knochenbleichen Kullubäume wie erstarrte Gespenster. Dinesh Sadia fröstelt. Er zieht seinen Schal über das Gesicht. Seine Ohren aber hält der Safari-Guide frei, um weit hinaus in den Wald zu horchen. Es ist still. Kein Vogel singt im Morgengrauen. Die Affenhorden scheinen noch im Dämmerschlaf. Nur das klagende «Miau» eines Pfaus tönt aus der Ferne.
Plötzlich durchdringt der schrille Ruf eines Hirschs den Wald. Sadia hält den Wagen an. Minutenlang lauscht er angestrengt ins Halbdunkel. Irgendwann brechen die ersten Sonnenstrahlen durchs Gebüsch. «Wenn der Warnruf des Axishirschs tönt, sind die Löwen nicht weit», weiss der 34-jährige Inder aus dem Dorf Sasan am Nationalpark-Eingang.
Der Gir-Wald auf der Halbinsel Kathiawar im indischen Bundesstaat Gujarat ist der letzte Zufluchtsort für den Asiatischen Löwen. Einst bevölkerte der König der Tiere nicht nur die Savannen Afrikas, sondern auch weite Teile Asiens, vom Mittelmeer bis zum Ganges. Wahrscheinlich wurden die letzten Löwen auf dem Balkan und in Griechenland in römischer Zeit ausgerottet. Der Siegeszug von Feuerwaffen sorgte in der Mitte des 19. Jahrhunderts für den Garaus des Löwen in Kleinasien und weiten Teilen Mesopotamiens. Der letzte Löwe im Irak wurde 1918 am unteren Tigris getötet. Zur Jahrhundertwende war er auch im Iran eine äusserste Seltenheit. Die letzten Tiere sollen 1942 bei Dezful im Südwesten des Landes beobachtet worden sein.
Dinesh Sadia startet den Motor und folgt weiter dem Warnruf des Hirschs. Ein Pfauenhahn flüchtet panisch vor dem Wagen ins Dickicht. Und tatsächlich – unter einer Buschgruppe, nur ein paar Schritte von der Fahrbahn entfernt, liegt plötzlich der König des Gir-Walds, ein mächtiger Löwe. Augenscheinlich geniesst er die ersten wärmenden Strahlen der Morgensonne im Gesicht. Ein zotteliger Kranz goldbrauner Mähne umrahmt den gewaltigen Kopf. Seine breite Nase scheint vom Kampf mit einem Artgenossen oder einem Beutetier zerkratzt. Scheinbar unbeeindruckt beobachtet er, wie das Menschengefährt sich ihm langsam nähert.
Geschützt und trotzdem gefährdet
Die Begegnung mit dem heimlichen König Indiens ist ein kleines Wunder. Mitte des 19. Jahrhunderts war der Löwe auch jenseits des Indus fast überall ausgerottet. Allein im Wald von Gir, dem Jagdgebiet des Nawab von Junagadh, überlebten einige wenige Tiere. 1880 sollen es nur noch zwölf gewesen sein. Es ist der Geistesgegenwart und dem resoluten Regiment der Gujarater Statthalter zu verdanken, dass nicht auch noch sie erlegt wurden. Die Wilderei wurde streng verfolgt, die Löwenjagd scharf reglementiert und schliesslich ganz abgeschafft.
Seither hat sich der Bestand stetig erholt. Bei der letzten offiziellen Zählung im Mai wurden 523 Tiere erfasst, ein Zuwachs von 27 Prozent seit dem Zensus von 2010, als man noch 411 Löwen zählte.
Die Löwen sind der Höhepunkt jeder Safari und meist der einzige Grund, warum Touristen nach Gir kommen. Manche von ihnen sind 18 Stunden von Mumbai mit dem Auto hierhergefahren. Das wundert nicht, ist doch der Löwe und nicht etwa der Tiger das Wappentier Indiens. Auf jedem Pass und jedem Geldschein findet sich das Kapitell der Ashokasäule mit drei zähnefletschenden Löwen, das Nationalemblem des Landes.
Mit dem angrenzenden Pania-Schutzgebiet umfasst der Gir-Wald 1452 Quadratkilometer und ist damit rund achtmal so gross wie der Schweizer Nationalpark. Für die wachsende Zahl der Raubkatzen wird in Zukunft der Lebensraum knapp. Sie weichen aus in die immer dichter besiedelten Landstriche um das Schutzgebiet. Konflikte mit Bauern und Viehhirten bleiben nicht aus. Zoologen macht zudem der kleine Genpool der Löwen von Gir Sorgen. Auch könnte eine Krankheitsepidemie den Fortbestand der Tiere gefährden. 1994 starben etwa 30 Prozent der Löwen in der Serengeti an Staupeviren, die wahrscheinlich von Haus- und Wildhunden übertragen wurden.
Um eine ähnliche Situation in Indien auszuschliessen, denkt man seit Langem darüber nach, einen Teil der Raubkatzen in andere Schutzgebiete umzusiedeln. Die Regierung Gujarats weigerte sich aber bisher vehement, ihre Löwen an andere Bundesstaaten abzugeben. Die Wappentiere sind zum Politikum geworden. 2013 entschied das Oberste Gericht des Landes, dass die Löwen Eigentum Indiens und nicht ausschliesslich Gujarats sind und ordnete eine Umsiedlung eines Teils der Tiere ins Kuno-Wildreservat im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh an. «Die Löwen sind dort niemals sicher», sagt Dinesh Sadia. «Man wird sie umbringen und ihre Knochen an die Chinesen verkaufen, wie sie es dort schon mit den Knochen ihrer Tiger machen. Nein, die Löwen gehören Gujarat.»
Löwe schlecht für Tiger
Sadia erhält Zuspruch von Gujarater Zoologen wie Bharat Jethva: «Eine Umsiedlung nach Kuno würde nicht nur die Löwen gefährden, sondern auch die Tiger», sagt der Wildtier-Forscher. Als Garant für einen Fortbestand der Löwen in Gujarat hält er das traditionell weitgehend harmonische Zusammenleben von Mensch und Raubtier in der Region. «Die Menschen in Gir opfern ihr Vieh für die Löwen und setzen sich dennoch für ihren Schutz ein», sagt Jethva. «Das ist einzigartig auf der Welt.»
Ein Hirtenstab zum Schutz
«Nie würde ein Maldhari einen Löwen töten», sagt Lalabhai Bodhabhai Kodiyatar. Der alte Mann trägt goldene Innenohrstecker, einen mächtigen Walrossbart und den typischen weissen Hemdanzug der Maldharis. Früher zogen die Hirten als Nomaden mit ihren Herden durch weite Teile Gujarats. Wie für die Löwen wurde der Gir-Wald für sie zur Heimat, als man sie andernorts nicht mehr dulden wollte.
Der Viehhirte tätschelt den Kopf seines Wasserbüffels. Über eine klaffende Wunde am Hinterleib hat er einen Sack gelegt. Vor zehn Tagen war der Büffel bei Nacht von einem Löwen angefallen worden. Er überlebte, nachdem der Viehhirte den Angreifer vertrieben hatte. «Was brauche ich eine Waffe?», sagt der 80-jährige. «Mir genügt mein Hirtenstab.» Angst vor den Löwen kennt er nicht. Und Groll oder gar Rachegedanken gegen die Raubtiere sind den Maldharis fremd. Im Laufe seines langen Lebens haben Raubkatzen schon mehr als 70 von Kodyatars Rindern gerissen. Aber der Greis gibt sich sanftmütig. «Wenn Dir eine Kuh genommen wird, so wirst du mehrere dafür zurückbekommen», sagt er lächelnd.
Die Löwen als Armee von Gir
Als gläubige Hindus sind die meisten Maldharis strenge Vegetarier. Sie halten ihr Vieh allein für Milch und Molkeprodukte. Als eine ihrer beliebtesten Göttinnen verehren sie Amba, Mutter Erde, die als Zeichen ihrer Macht auf einem Löwen reitet. Der König der Tiere ist den Maldharis heilig. Auf dem Pilgerberg Girnar unweit des Nationalparks ist Amba ein Tempel geweiht. Zum Herbstfest Navratri singen und tanzen die Gläubigen neun Nächte lang zu Ehren der Löwenreiterin.
«Oh nein, ich habe keine Angst vor den Löwen», sagt Kodiyatar. Dreimal wurde er von einem Löwen angegriffen und verletzt, nie hegte er den Wunsch, ein Gewehr zu tragen. «Die Götter beschützen mich.»
In Gir scheinen Löwe und Mensch einen Weg zum Zusammenleben gefunden zu haben. Auch Lalabhai Bodhabhai Kodiyatar will kein einziges der Tiere an ein anderes Schutzgebiet hergeben. «Die Löwen sind die Armee von Gir», sagt er, «wenn seine Beschützer gehen, dann stirbt der ganze Wald.»
Von Winfried Schumacher