Ein Band traumhaft schöner Inselchen zwischen Korsika und Sardinien lockt Italien- und Frankreich-Sehnsüchtige gleichermassen.
«Im Grunde gehören wir ja zusammen», sagt Luca Filigheddu, den Blick auf die korsische Küste gerichtet, ins möwendurchsegelte Blau. «Hier wie drüben sprechen wir die gleiche Sprache.» Der sardische Bootsführer aus Cannigione ist an einem wolkenlosen Morgen von der Nordküste Sardiniens aufgebrochen. Am Horizont ist die dunkelgrüne Silhouette Korsikas in Sicht. Sein Motorboot zieht einen weissen Streifen ins Aquamarin. Im Westen verliert sich in der glitzernden Strasse von Bonifacio eine Reihe an felsigen Inselchen. Wie der knöcherne Panzer eines gigantischen Urkrokodils, das zwischen den Nationen dümpelt, ragen die Granithügel des Lavezzi-Archipels aus der Meeresstrasse auf. Sie sind gemeinsam mit dem sardischen La Maddalena-Nationalpark Teil eines länderübergreifenden Meeresschutzgebiets. Wo Frankreich – pardon, Korsika – beginnt und wo Italien – perdono, Sardinien – aufhört, wissen wohl nur die Technokraten in Paris und Rom.
Korsen oder Sarden?
«Der galluresische Dialekt ist auf beiden Seiten sehr ähnlich», erklärt Filigheddu, «unterscheidet sich aber stark von der sardischen Sprache.» In der Tat verbindet die Bewohner der Gallura im Norden Sardiniens historisch und kulturell mehr mit den Korsen als mit den Sarden. Das Sardische, eine eigenständige Sprache, die vor allem noch im Zentrum und Süden der Insel gesprochen wird, hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Lateinischen. Das Galluresische hingegen zählt als Varietät des Korsischen zu den mittelitalienischen Dialekten.
Das lange Zeit dünn besiedelte Nordsardinien wurde nach einer Pestepidemie im 18. Jahrhundert von Korsen bevölkert. Sind die Ansässigen nun also Sarden oder Korsen? Klar ist: die Galluresen verstehen sich nicht in erster Linie als Italiener oder gar als Gallier, obwohl ihre Nationalflagge die italienische Trikolore und ihr Wappentier der gallische Hahn ist. Der Name Gallura, so erzählen sich ihre Bewohner wohl augenzwinkernd, stamme ursprünglich von den Gockeln, die man im nahen Korsika krähen hört.
In Wahrheit haben die Galluresen lange bevor sie sich von den Italienern das Dolce Vita und von den Franzosen das Savoir-vivre verinnerlichten, gelernt, von den Grossmächten des Mittelmeers, die sich immer wieder ihre Küsten einverleibten, stets die augenfälligsten Seiten zu bewahren. So entstand eine eigene sehr sardische, sehr korsische Lebensweise. Einst waren die beiden Inseln auch geologisch verbunden. Die Kulturgeschichte der Gallura reicht mehr als 20 000 Jahre zurück. Von geheimnisvollen Gigantengräbern aus der Zeit der ägyptischen Pyramiden über römische Ruinen bis zu romanischen Kirchen finden sich bis heute zahllose Zeugen einer bewegten Vergangenheit. Ebenso vielfältig ist die regionale Küche. Von der deftigen Brotsuppe Suppa Cuata über die mit Ricotta gefüllten und Zimtzucker bestreuten Puligioni-Ravioli bis zum edlen Vermentino di Gallura-Weisswein – im Norden Sardiniens verbündet sich der gute Geschmack verschiedenster Mittelmeerregionen. Die schönste Küste zwischen der Côte d’Azur und der Costa Amalfi hat die Gallura ohnehin.
Die Insel der Milliardäre
Filigheddu hält nach Delfinen Ausschau. In der Ferne grüsst die Felsenstadt Bonifacio, die auf einem Kalksteinplateau auf Korsika abenteuerlich hoch über dem Meer errichtet wurde. Das Meeresreservat Bouches de Bonifacio vor der Südküste Korsikas ist mit seinen Felseninselchen und versteckten Buchten für die Tiere ein einziger Abenteuerspielplatz. Nur im Hochsommer, wenn die Besucher normalerweise mit ihren Yachten und Motorbooten einfallen, verziehen sie sich oft hinaus aufs offene Meer.
Die erste Insel, die Filigheddu ansteuert, ist die flache Île Piana, nur wenige Kilometer von Korsika entfernt. Zwar fehlen ihr die spektakulären Granitfelsen ihrer Nachbarinseln, das Meer vor ihrem feinen Sandstrand leuchtet jedoch in einem karibischen Smaragdgrün, dass selbst Wasserscheue einem Schnorchelausflug nur schwer widerstehen können. Direkt dahinter liegt die Île Cavallo, die «Insel der Milliardäre», wie Filigheddu verrät, «dorthin kommt man nur mit Genehmigung oder dem Helikopter.» In den Siebzigern war die Insel ein Hub des Jetsets. Catherine Deneuve und Marcello Mastroianni fanden hier einen abgeschirmten Rückzugsort. Caroline von Monaco und Kronprinz Viktor Emmanuel von Savoyen sollen auf der Insel eine Residenz erworben haben. Selbst nachdem 1990 korsische Separatisten Bombenanschläge auf zwei Restaurantbaustellen verübten, liessen sich die Stars und Milliardäre nicht vertreiben. In den vergangenen Jahren sollen Beyoncé und Alicia Keys gesichtet worden sein.
Filigheddus Bootsgesellschaft scheint jedoch die Postkartenidylle der Île Piana als exklusive Badewanne zu genügen. Doch auf der Nachbarinsel Île Lavazzo entdecken sie noch eindrucksvollere Strandbuchten. Henry Moore hätte die eindrucksvollen Granitfelsen, die den wasserstoffblonden Sand rahmen, nicht vollendeter in Bronze giessen können. Das Eiland darf es durchaus mit den berühmten Fototapeten-Stränden der Seychellen aufnehmen. Zwar fehlen hier die Kokospalmen – das Mittelmeer funkelt jedoch genauso türkis wie der Indische Ozean.
Bevor Filigheddu Besucher als Bootsführer zu den Inseln zwischen Korsika und Sardinien schipperte, war der heute 65-Jährige als Seemann auf allen Weltmeeren unterwegs. «Ich war in Asien, Afrika und Südamerika», erzählt er, «aber nirgendwo ist das Meer so schön wie hier.» Weil es ausser im Tourismus in der Gallura jedoch kaum Arbeitsplätze gibt, ziehen vor allem junge Galluresen immer häufiger weg. «Meine Kinder sprechen den Dialekt nicht mehr», sagt er, «viele junge Menschen zieht es ins Ausland, weil es hier nur im Sommer Arbeit gibt.»
Einer von denen, die geblieben sind, ist Jacopo Andelmi. Der 24-Jährige bricht am darauffolgenden Morgen von der galluresischen Küste auf, um einer kleinen Gruppe Gäste den La Maddalena-Nationalpark zu zeigen. «Aus meinem Grundschuljahrgang leben inzwischen vielleicht die Hälfte im Ausland», sagt er, «in Deutschland, England und Australien. Mich selbst hat es aber nie weggezogen.» Andelmi steuert zunächst die Isola Spargi mit ihren funkelnden Sandbuchten an. «Diese hier heisst Cala Soraya, weil die persische Prinzessin hier so gern badete», verrät Andelmi. Die berühmte Spiaggia Rosa, nur ein paar Segelminuten weiter auf der Isola Budelli, hat heute allerdings nur noch einen mit viel Fantasie erkennbaren rosafarbenen Schimmer. Ein Einzeller verhalf dem Strand einst zu seiner besonderen Farbgebung und seinem Ruhm. Zu viele Besucher hatten hier jedoch über Jahrzehnte Sand mitgenommen und beim Auswerfen ihrer Anker die Mikroorganismen zerstört.
Die Pläne Napoleons
Auf Budelli lebt Mauro Morandi, Italiens wohl bekanntester Eremit. Seit mehr als dreissig Jahren wohnt der heute 81-jährige ehemalige Inselwächter allein auf dem Eiland und sorgt dafür, dass die Touristen dem fragilen Ökosystem nicht zu sehr zusetzen. «Ich glaube nicht, dass die Menschen die heilende Kraft besitzen, sich zu ändern», sagte er in einem Interview vom Fernsehsender CNN zum Höhepunkt der Corona-Pandemie Ende März. Er glaube, dass die Krise eine Chance berge, das Leben zu überdenken. «Aber die Mehrheit der Menschen sind zu sehr an Komfort und an einen hektischen Lebensstil gewöhnt.»
Wo sich Budelli und ihre Nachbarinseln Razzoli und Santa Maria fast berühren, hält Andelmi für eine Schnorcheltour an. Im ginklaren Wasser umschwärmen glitzernde Fische die Ausflügler. «Hier drüben auf Santa Maria hat Roberto Benigni ein Haus», sagt Andelmi. Er sehe ihn manchmal beim Einkaufen auf der Hauptinsel La Maddalena. Lange vor dem Regisseur und Schauspieler wählte der italienische Nationalheld Giuseppe Garibaldi den Archipel zu seinem Alterswohnsitz. Er starb 1882 auf der Insel Caprera. Ginge es nach Napoleon, wäre die gesamte Inselgruppe französisch geworden. Im Gefecht bei La Maddalena wollte der spätere Kaiser der Franzosen 1793 den Archipel für die Grande Nation sichern. Der junge Feldherr scheiterte jedoch.
Das länderübergreifende Meeresschutzgebiet dürfte ihm aber posthum einen Traum erfüllen – wenn auch anders als von dem gefürchteten Korsen erdacht. Den Delfinen und seltenen Korallenmöwen scheint es jedenfalls gleich, wo die Menschen ihre Grenzen ziehen – den Galluresen dies- und jenseits von Sardinien ohnehin schon aus Tradition.
Text: Winfried Schumacher
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Gut zu Wissen
Anreise: Edelweiss fliegt Olbia auf Sardinien und Figari im Süden Korsikas an. Die Anreise ist auch mit der Fähre, zum Beispiel ab Genua, möglich.
Hotels: Zu der von einer galluresischen Familie geführten Gruppe Delphina Hotels & Resorts zählen mehrere 4- und 5-Sterne-Hotels an den schönsten Küstenabschnitten im Norden Sardiniens. Vom Valle dell’Erica hat man einen magischen Ausblick auf die Inselgruppe des La Maddalena-Nationalparks. Das Resort wurde bei den letzten World Travel Awards als «Europe’s Leading Green Resort» ausgezeichnet. Es setzt konsequent auf einen nachhaltigen Unterhalt.
Restaurant: Eine der besten Einkehrmöglichkeiten, um die vielfältige Küche der Gallura zu entdecken, ist das Landhaus Cabu Abbas. Von der Terrasse hat man einen herrlichen Blick auf die Bucht von Olbia.