Ich packe meine Koffer… «artundreise» fragt den ehemaligen Abt von Disentis, Abt em. Dr. Daniel Schönbächler
Herr Schönbächler, sind Sie für das Kloster Disentis oft auf Reisen?
Abt Daniel: Es gibt auf der ganzen Welt Benediktinerklöster und wenn ich auf einer Reise Studienkollegen treffen kann, freut es mich. Ich nahm alle fünf Jahre an der Äbtekonferenz in Rom teil, wo alle 260 Äbte anwesend sind. Dazu kommen Versammlungen für die deutschsprachigen Äbte. Durch diesen Austausch entstehen Bekanntschaften auf der ganzen Welt, und ab und zu ergibt sich ein Besuch. Im Kloster haben wir drei Wochen Ferien pro Jahr, in denen ich gerne eine Reise mache.
Wohin zieht es Sie dann?
Ich bin Kunsthistoriker, mich interessieren alte Städte oder Unesco-Welterbestätten. Auch Klöster und Kirchen ziehen mich an. Ich mache «Kulturtourismus».
Welche Ihrer Reisen ist Ihnen speziell in Erinnerung geblieben?
Eine Gruppenreise auf die griechische Insel Patmos. Der Apostel Johannes hat dort die Apokalypse geschrieben, es gibt eine Apokalypse-Höhle und das Johannes-Kloster. Wir haben uns in der Gruppe lange vorbereitet und intensiv mit dem Text auseinandergesetzt. Dann sind wir nach Patmos gereist, wo wir uns viel Zeit gelassen haben. Während dort Kreuzfahrt-Touristen in kürzester Zeit auf den Berg hochgeschleust werden, waren wir zu Fuss unterwegs, zum Teil in absoluter Stille. Das ist eine ganz besondere Erfahrung, mit anderen stillschweigend zu gehen. Ich habe auf dieser Reise wichtige Erfahrungen gemacht, auch spirituelle.
Sind Erfahrungen der wichtigste Wert einer Reise?
Es gibt Reisen, auf denen bekommt man Erlebnisse, und wenn man Glück hat, macht man auch Erfahrungen. Erlebnisse kann man sammeln wie Briefmarken. Erfahrungen jedoch verändern einen Menschen. Ich denke, jeder Mensch hat das Bedürfnis, Erfahrungen zu machen. Dafür braucht es aber nicht zwingend Reisen.
Was halten Sie von Reiseveranstaltern, die ihren Kunden Erfahrungen versprechen?
Erfahrungen kann man nicht verkaufen. Aber man kann die Rahmenbedingungen dafür schaffen.
Beispielsweise mit Volunteer-Reisen, die sehr gefragt sind im Moment?
Gerade kürzlich war ein Artikel in der NZZ, der diesem Trend sehr ernüchternde Fakten gegenüberstellte. Bei vielen dieser Angebote wird von der Veranstalterseite her betrogen. Letztlich wird damit nur Geld gemacht. Aber offensichtlich wollen Reisende nicht mehr nur Zuschauer sein, sie wollen etwas Gutes tun, suchen einen Sinn während dem Reisen. Das erklärt wohl auch, dass auf einmal viele pilgern gehen.
Stört Sie das? Schliesslich haben Pilgerreisen einen religiösen Hintergrund?
Pilgerreisen sind Wallfahrten, ja. Ob mich das stört? Ich kann es nicht ändern. Es gibt sicher gute Menschen, die auf dem Jakobsweg unterwegs sind. Mir fällt aber auf, dass plötzlich zahlreiche sogenannte Pilgerwege aus dem Boden schiessen. Damit kann natürlich kein Reisebüro Geld verdienen. Es ist wie mit den Klosterferien, die manchmal im Tourismus diskutiert werden. Menschen, welche die Stille eines Klosters suchen, finden sie heute schon. Wir haben immer Gäste bei uns im Kloster.
Es scheint ein steigendes Bedürfnis zu sein, Ruhe und Sinn zu finden?
Je mehr «Stresstourismus» die Menschen machen, desto grösser wird der Wunsch nach langsamerem Tourismus. Mit Stresstourismus meine ich das Abhaken von Destinationen, der ständige Konsum, das Herumrasen in den Ferien.
Werden wahre Luxusferien künftig solche mit viel Zeit und Ruhe sein?
Der Begriff Luxus war ursprünglich negativ besetzt. Er bedeutete Überfluss, nicht zum Leben Notwendiges, Verschwendung, und war also des Teufels. Dann hat sich der Begriff gewandelt und wurde emotional aufgeladen. Heute verbinden die meisten Luxus mit Besitz und Prestige, der Botschaft «Ich kann es mir leisten», und mit «Fun». Zeit und Ruhe haben nichts mit Luxus zu tun. Sie sind eine Notwendigkeit.
Ist es ein Luxus, zu reisen?
Ursprünglich war Reisen eine Notwendigkeit. Die Menschen mussten ihre Heimat zum Beispiel wegen Hunger verlassen. Es hat immer schon Reisen gegeben. Im Neuen Testament ist Paulus mit Schiffen unterwegs, und schon Jonas kaufte laut Bibel eine Fahrkarte, um nach Tarschisch zu verreisen. Später kamen die Völkerwanderungen, wie wir sie heute wieder – in neuer Form – erleben. Das hat gar nichts mit Luxus zu tun. Auch wir durchschnittlichen Europäer wer den zu Reisen gezwungen, für Konferenzen, den Beruf. Selbst wir Benediktiner, die das Gelübde der Ortsgebundenheit ablegen, sind ständig unterwegs. Aber braucht es das wirklich? Reisen ist ein Luxus, wenn es nicht lebensnotwendig ist.
Haben Sie einem Menschen, den Sie begleiten, schon einmal empfohlen zu reisen? Zum Beispiel um Abstand zu gewinnen?
Nein. Es ist charakterabhängig, ob jemand die Lust verspürt zu reisen oder nicht. Wie bei allem im Leben interessiert mich die Motivation dahinter. Wenn jemand ständig unterwegs ist, gilt es herauszufinden, warum er das macht, welches Bedürfnis er damit befriedigen will. Wir machen vieles unbewusst. Der Mensch ist zudem ein Herdentier und folgt der Masse. Heute geht jeder in die Ferien, und nur wenige haben den Mut zu reduzieren und einfach einmal geschehen zu lassen.
Ist es noch korrekt zu reisen, wenn man an die negativen Folgen des Tourismus denkt?
Ist es denn korrekt, hier in Disentis zu leben? Wir müssen dort, wo wir sind, das Beste machen.
Was haben Sie auf Ihren Reisen immer dabei?
Unser Gebetbuch und oft einen Zeichnungsblock.
Interview: Stefanie Schnelli
(Interview vom März 2016)
Abt em. Dr. Daniel Schönbächler wurde 1942 in Winterthur geboren und lebt seit seinem 12. Lebensjahr in Disentis – er hat schon das Gymnasium im Benediktinerkloster besucht. Nach dem Theologiestudium hat er in Germanistik und Kunstgeschichte doktoriert und unterrichtete zwischen 1973 und 2012 an der Klosterschule. Von 2000 bis 2012 war er Abt und Vorsteher der Klostergemeinschaft Disentis. Bis heute gibt er Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung und begleitet Menschen in individualpsychologischen Gesprächen. Abt Daniel war Gleitschirmpilot, verzeichnete «350 schöne Höhenflüge und zwei harte Landungen» und war oft mit dem Rennvelo unterwegs. In seinen Ferien ist er auch Reisender und hat verschiedene Tourismusfelder erlebt: vom Liegen am Strand bis zum Besuch von Wallfahrtsstätten mit Hunderten von Menschen. Ruhige Orte mit kulturellem Hintergrund sind ihm aber am liebsten.