Ich packe meinen Koffer… artundreise fragt Lotti Latrous, Schweizerin des Jahres 2004
Frau Latrous, vor wenigen Wochen erschien Ihre Biografie «Was war. Was ist. Was zählt. Mein etwas verrücktes Leben». Was möchten Sie den Lesern mitgeben?
Ich habe das Buch vor allem für die Spender unseres Hilfswerks an der Elfenbeinküste geschrieben. Ich möchte ihnen danken. Wir bekommen fast ausschliesslich Spenden von Privatpersonen. Viele unterstützen uns schon seit Jahren, und viele haben auch selbst nicht zuviel. Wir bekommen berührende Briefe, in denen uns Menschen danken, dass wir helfen und sie uns unterstützen dürfen.
Sie kennen die Elfenbeinküste gut, haben 1999 in Abidjan ein Ambulatorium, 2002 ein Sterbehospiz und später auch ein Waisenhaus eröffnet. Wie hat sich das Land in den vergangenen zwanzig Jahren entwickelt?
Die Infrastruktur hat sich stark verbessert. Es wurden Strassen gebaut, bessere Häuser in den Städten. Aber es ist eine sehr einseitige Entwicklung. Die Slums sind gewachsen, es gibt immer mehr Menschen, die in extremer Armut leben.
Gibt es mehr Hilfe für HIV-Positive?
Ihre Situation hat sich aus medizinischer Sicht verbessert. Die Regierung versorgt sie kostenlos mit den Medikamenten der Dreifach-Therapie. Die Todesrate hat damit abgenommen, die Zahl der neu Infizierten auch. Man darf aber die Nebenwirkungen der Generika, die sie bekommen, nicht unterschätzen. Zudem werden sie stigmatisiert. Sie dürfen nicht jeden Beruf erlernen und finden oft keine Partnerinnen und Partner. Unsere Jugendlichen sind alle HIV-positiv, sie tragen eine schwere Bürde.
Wie viele Kinder und Jugendliche leben in Ihrem Waisenhaus?
Zurzeit sind es 42. Der Älteste ist 24, unsere Jüngste, Ruth, ist 15 Monate alt. Ob sie HIV-positiv ist, wissen wir noch nicht. Ihre Mutter hat sie auf der Strasse zur Welt gebracht und ist kurz nach der Geburt gestorben, so kam sie zu uns.
Bis heute unterstützen Sie mit Ihrem Hilfswerk die Ärmsten der Armen und packen auch mit 66 Jahren noch selber mit an. Sie leben inzwischen aber auch in der Schweiz. Wie oft sind Sie an der Elfenbeinküste und wie verbinden Sie diese unterschiedlichen Welten?
Ich bin mindestens sechs Monate im Jahr an der Elfenbeinküste und lebe dort in unserem Hilfswerk. Den Rest der Zeit verbringe ich in Tunesien, der Heimat meines Mannes, und in Genf. Obwohl wir in Tunesien und der Schweiz einfach leben, sind die Kontraste krass und oft schwierig auszuhalten. Ich habe vor kurzem in Zürich das Märlitram gesehen, diesen hübsch bemalten, alten Tramwagen mit glänzenden Lichtern. Das hat mich sehr gerührt. Ich wünschte, die Kinder aus den Slums könnten auch einmal so etwas Schönes sehen.
Wie halten Sie das Elend aus, mit dem Sie konfrontiert werden?
Humor hilft in vielen Situationen. Diesbezüglich habe ich viel von den Afrikanern gelernt. Sie haben einen unglaublich guten Sinn für Humor.
Wie ist Ihr Hilfswerk gewachsen? Es sind inzwischen ja verschiedene Projekte.
Wir führen immer noch ein Sterbehospiz, damit Aidskranke so würdevoll wie möglich und nicht alleine sterben müssen. Daneben behandeln wir rund 5500 Aidspatienten im Jahr. Wir bieten medizinische Abklärungen und Beratungen an und bezahlen Operationen und Therapien. Zudem ermöglichen wir 800 Kindern im Jahr eine Schulausbildung. Für rund 400 Frauen bezahlen wir den Mietzins, damit sie und ihre Kinder ein zuhause haben – auch wenn das nur einfachste Hütten sind. Wenn es nützlich ist, sprechen wir Mikrokredite, damit die Frauen etwas aufbauen und auf eigenen Füssen stehen können.
Denken Sie auch an neue Projekte?
Ja! Wir konnten neben unserem Grundstück eine Parzelle Land erwerben. Dort wird mein Mann Aziz ein traditionelles afrikanisches Dorf nachbauen, wo später chronisch kranke Menschen, die Hilfe benötigen, leben können. Zum Beispiel gebrechliche Senioren, die einst wegen Arbeit an die Elfenbeinküste kamen, nie mehr in ihre Heimatländer zurückkehren konnten und nun alleine sind. In den traditionellen Dörfern hilft die Gemeinschaft einander. Dieser Solidaritätsgedanke ist sogar in den Slums erstaunlich stark, obwohl die Strukturen dort anders und viele Hilfsbedürftige Ausländer sind. Unsere Waisenkinder sind in das Projekt involviert, und diejenigen von ihnen, die noch in solchen Dörfern lebten, beraten Aziz fachmännisch (lächelt).
Der Tourismus an der Elfenbeinküste nimmt zu. Hilft das dem Land?
Den Menschen, mit denen wir in Kontakt sind, hilft das nicht. Ich glaube auch nicht, dass es unbedingt zu einer besseren Welt beiträgt. Ich verurteile es aber auch nicht. Schweizer, die elf Monate im Jahr hart arbeiten, wollen in ihren Ferien Ruhe haben und sich entspannen. Das ist ihr gutes Recht. Kritisch bin ich gegenüber solchen Slum-Touren für Besucher, wie es sie in manchen Ländern gibt. Das ist nur demütigend für die Menschen, die dort leben.
Reisen Sie noch in fremde Länder?
Ich reise nicht mehr viel in für mich neue Destinationen, und in Länder, in denen es grosse Armut gibt, gar nicht mehr.
Aus Überzeugung?
Ich habe genug Armut gesehen. Aber es ist nicht meine Intention, jemandem ein schlechtes Gewissen zu machen. Wir haben Glück, dass wir in einem der reichsten Länder der Welt geboren wurden, dafür sollten wir dankbar sein.
Interview Stefanie Schnelli
Bild: Lotti Latrous mit Florence, eine der Mütter, die von der Stiftung unterstützt werden.
Zur Person
Lotti Latrous kam 1953 in Dielsdorf zur Welt. Mit 19 Jahren heiratete sie ihren Mann Aziz, der aus Tunesien stammt. Aziz war für einen Schweizer Grosskonzern in Afrika und Saudi-Arabien tätig. Nach Kairo wurde er an die Elfenbeinküste versetzt. Konfrontiert mit den gravierenden Folgen, die das Aids-Virus in Schwarzafrika auslöste, gründete sie 1999 ein Ambulatorium, um die allernötigste Hilfe zu leisten und todkranke Menschen zu begleiten. 2002 eröffnete sie ein Sterbehospiz und wenig später auch ein Waisenhaus. Als Aziz wieder versetzt wurde und mit den drei gemeinsamen Kindern nach Kairo zurückkehrte, blieb Lotti Latrous an der Elfenbeinküste. Bis heute lebt sie die Hälfte des Jahres dort. 2004 wurde sie Schweizerin des Jahres. Vor wenigen Wochen ist ihre Biografie «Was war. Was ist. Was zählt.» im Wörterseh-Verlag erschienen.
lottilatrous.ch
woerterseh.ch