Ich packe meinen Koffer… «artundreise» fragt Geschichtenerzählerin Maria Greco
Frau Greco, Sie sind Geschichtenerzählerin und haben neben Legenden und Erzählungen auch Wandersagen in Ihrem Repertoire. Gehen also auch Geschichten auf Reisen?
Ja, Geschichten und auch Worte gehen auf Reisen. Wandersagen sind Sagen, die man in leicht abgeänderten Versionen in verschiedenen Regionen findet. Sie haben, wie viele Sagen, einen wahren Kern, um den sie eine Geschichte erzählen. Der oft moralische Zeigefinger, der ihnen innewohnt, war mancherorts nützlich (lacht). Den Sagen wurden das nötige Lokalkolorit verpasst, damit sie harmonierten. Manchmal sind es aber auch einfach spannende Geschichten, die sich die Menschen gerne weitererzählen.
Für Ihr Buch «Zuger Sage» waren Sie im ganzen Kanton unterwegs und haben alte Geschichten gesucht und aufgeschrieben. Hat das Ihr Verhältnis zu Ihrer Heimat verändert?
Sicher, ja. Wir haben im Kanton Zug einen reichen Fundus von Sagen und Legenden. Sie gehören immer in ihre Zeit, in einen historischen Kontext. Diese Verbindung stelle ich auch bei meinen Führungen her: Ich verbinde das Historische mit der Sage. Das ist unser immaterielles Kulturerbe und gehört zu unseren Wurzeln. Mich hat das meiner Heimat noch nähergebracht. Die Frage, was die Menschen früher erlebt haben, fasziniert mich. Für einen Expat, der nach Zug zieht, mag es seltsam sein, dass unsere Flaniermeile, eine richtige Postkarten-Idylle, «Katastrophenbucht» heisst. Doch der Name bezieht sich auf zwei Katastrophen, die sich 1435 und 1887 ereignet haben. Ganze Häuserzeilen brachen damals in den See. Nach dem ersten Einsturz im Spätmittelalter gab es bald eine Sage, die den Menschen Trost spendete. Ein Ort bekommt durch seine Geschichten Tiefe.
Suchen Sie solche Geschichten, wenn Sie reisen?
Ja, ich bin eine Suchende auf Reisen. Ich besuche viele Museen und Stadtführungen und interessiere mich für die kleinen Geschichten. Zusammen mit meinem Mann bin ich in den vergangenen Jahren von der Atlantikküste in Frankreich über den Ärmelkanal bis nach Belgien und die holländische Nordseeküste gereist. Immer wieder ein Stück. Die Region ist historisch sehr interessant und spielte in beiden Weltkriegen eine wichtige Rolle. Mich interessieren in diesem Kontext die unbekannten Helden, die Schicksale einzelner Menschen, die Geschichte im Stillen. Ich forsche nach, versuche, mehr herauszufinden, und so eröffnet sich nach und nach ein ganzer Mikrokosmos.
Welche Orte würden Sie, bezogen auf seine Sagen und Legenden, gerne noch besuchen?
In Skandinavien und den nordischen Ländern ist die Tradition von mystischen Sagen und Legenden sehr lebendig. Insbesondere Island mit seinen Trollen und Geistern würde mich reizen. Aber auch in Irland und Norwegen gibt es wunderschöne Legenden um Waldkobolde und Feen. Wenn man beispielsweise in der Bretagne durch die Wälder spaziert, spürt man diese Mystik wirklich. Man kann sich ihr fast nicht entziehen. Das gilt übrigens auch für unsere Gefilde: Auch bei uns gibt es Geschichten von Erdmännchen, die den Kobolden aus der nordischen Sagenwelt sehr ähnlich sind. England und Schottland mag ich vor allem auch für ihre Spukgeschichten. In der Schweiz geht man mit Spuk sehr verhalten um, was ich schade finde.
Wie meinen Sie das?
Es wird nicht gerne darüber gesprochen. Das Stanser Jollerhaus zum Beispiel, in dem es gespukt haben soll, wurde abgerissen. In England steht an solchen Häusern: Hier spukt es. Zudem hat der angelsächsische Raum eine starke Erzählkultur. Ich reise auch dieses Jahr wieder nach Edinburgh in das Scottish Storytelling Center. Geschichtenerzähler ist in Grossbritannien ein anerkannter Beruf.
Sind Sie so auf das Geschichtenerzählen gekommen?
Nein, das hat viel früher angefangen. Meine Eltern stammen aus Italien, aus Apulien. Auch eine Region übrigens, wo Geschichten heute noch eine grosse Bedeutung haben. Als Kinder haben wir jeden Sommer dort verbracht. Am Abend haben meine Grosseltern im Innenhof zusammen mit den Nachbarn Tabakblätter auf Fäden aufgezogen, um sie zu trocknen. Tabak war damals in der Region ein willkommener Nebenerwerb. Wir durften helfen, und wir bettelten immer: «Nonna, Nonna, erzähl uns eine Geschichte!» Meine Grossmutter und auch ihre Nachbarin waren begnadete Erzählerinnen.
Sie haben die Zuger Sagen auf Mundart verfasst und legen auch bei Ihren Führungen viel Wert auf die Sprache. Welche Bedeutung hat sie für die Geschichten?
Die Sprache und auch der Körperausdruck sind meine wichtigsten Werkzeuge. Ich brauche nur wenig Requisiten, die Bilder sollen bei den Menschen im Kopf entstehen. Der Dialekt, die archaische Sprache, hilft dabei. Und es macht mir grossen Spass, mich so mit der Sprache auseinanderzusetzen.
Haben Sie dabei ein neues Lieblingswort entdeckt?
Ja, da gibt es einige. Besonders gefällt mir zum Beispiel «karisiere». Es stammt vom französischen «caresser», was so viel bedeutet wie streicheln, sanft berühren. Bei uns wurde es im Sinne von flirten, mit jemandem anbändeln, gebraucht. Es wurde von Schweizer Reisläufern, die dem französischen Hof dienten, in unsere Gegend gebracht. Ein Beispiel also, für ein weit gereistes Wort.
Interview: Stefanie Schnelli
Zur Person:
Maria Greco ist in Baar aufgewachsen und lebt heute mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern dort. Ihre Eltern stammen aus Apulien, einer Region, mit der sich Greco ebenfalls sehr verbunden fühlt. Als Geschichtenerzählerin befasst sie sich seit vielen Jahren mit den Sagen und Legenden aus ihrem Heimatkanton Zug. Neben Theatertouren, Führungen und Bühnenprogrammen zum Thema hat sie auch ein Buch verfasst. «Zuger Sage – Sage, Legände und Gschichte us em Kanton Zug» ist in zweiter Auflage im Victor Hotz Verlag erschienen. Greco ist zudem Initiantin und Organisatorin der offenen Bühne «Schräger Mittwoch».
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