Ich packe meine Koffer… «artundreise» fragt Filmemacher Samir.
Samir, in ein paar Tagen fliegen Sie für Dreharbeiten zu Ihrem neuen Spielfilm «Baghdad in my Shadow» in den Irak. Mit welchen Gefühlen treten Sie die Reise an?
Samir: Ich freue mich vor allem, dass wir jetzt drehen können. Wir waren bereits einmal so weit, aber dann hat sich unsere Hauptdarstellerin zurückgezogen. Sie hatte Zweifel und Bedenken, die Rolle wirklich zu spielen, da sie in einer Szene einen Mann küssen muss, der nicht ihr Ehemann ist. Das kommt nicht gut an in den ultrareligiösen Kreisen, die den Irak zurzeit dominieren.
Der Film handelt von vier Exilirakern in London: einem homosexuellen Mann, einer Frau, die aus ihrer Ehe floh und sich neu verliebt und einem fanatisch religiösen Jüngling, der sich gegen seinen säkularen Onkel auflehnt. Wie riskant ist es, diese Themen aufzugreifen?
Ich gehe davon aus, dass uns ein starker Wind um die Ohren blasen und der Film im Irak verboten wird. Aber das schreckt mich nicht ab. Dafür sind mir die Themen Migration und Integration zu wichtig. Ich möchte einen Blick hinter die Flüchtlingskulisse ermöglichen. Die Hetzerei gegen Muslime in der westlichen Welt ist schrecklich und blendet meist aus, dass es die Muslime sind, die am meisten unter dem religiösen Fanatismus leiden.
Sie leben seit Ihrer Kindheit in der Schweiz. Welche Beziehung haben Sie heute zum Irak?
Ich konnte in meinem Dokumentarfilm «Iraqi Odyssey», der die Geschichte unserer Familie erzählt, die heute auf dem ganzen Globus verstreut lebt, viel verarbeiten und zu einem gewissen Teil auch abschliessen. Alte Wunden der Nostalgie sind verheilt, andere haben sich neu aufgetan: Ich habe neue Freunde, um die ich mich sorge. Ich mache mir Gedanken über die jungen Menschen mit ihrer Sehnsucht, sich mit uns auszutauschen. Sie sind sehr gut vernetzt und informiert.
Wie ist die Stimmung in Bagdad aktuell? In der Kulturszene?
Die Menschen haben Hoffnung, gleichzeitig erleben sie in der Realpolitik Korruption und sehen, wie beispielsweise der Süden des Landes stark im Griff einer religiösen Politik steht. Die Jungen wissen, dass sie und ihre Anliegen nicht in der Politik vertreten sind. In diesen Wirren hat sich Bagdad zu einem Hotspot für Kulturschaffende entwickelt. Sie führen unter schwierigsten Umständen einen stillen Kampf für die Künste und den freien Ausdruck und gegen Religion und Korruption. Das ist beeindruckend.
Gibt es den Irak Ihrer Kindheit noch?
Nein. Der Wandel ist seit 2003 sehr rasant und radikal, auch im Städtebau. Heute gibt es Malls und Hochhäuser, die Schere zwischen Arm und Reich ist gross, die Mittelschicht ist sozusagen verschwunden. Ganze alte Bazare, zum Beispiel in der Pilgerstadt Nadschaf, wurden zerstört und mussten Hotels, Rolltreppen und Marmor weichen. Das hat nichts mehr mit der Religiosität zu tun, wie ich sie noch von meiner Grossmutter kannte. Die religiöse Spiritualität ist einem modernen Ritual gewichen.
Bedauern Sie diese Entwicklung?
Es ist eine Zeiterscheinung, ein Ausdruck der Globalisierung. Das passiert ja nicht nur im Irak, sondern überall auf der Welt. Altes muss Modernem weichen. Warum soll Bagdad nicht auch Gelaterias und Hochhäuser haben? Aber ich bin froh, dass ich das Land meiner Kindheit in zwei Filmen weitervermitteln konnte.
Welche Bilder jenes Landes tauchen vor Ihrem inneren Auge auf?
Riesige Palmenhaine zum Beispiel. Wenn man früher den Zug von Bagdad nach Basra nahm, fuhr man den ganzen Tag durch Palmenhaine. Ich erinnere mich an den Duft der Erde dort, an die Sommerfrische in Kurdistan. Oder an unsere Ausflüge an die Badeseen, wo die Frauen im Bikini sonnten. Im Süden, dem Mündungsgebiet von Euphrat und Tigris, gibt es riesige Sumpfgebiete. Saddam Hussein liess sie trockenlegen, nach seinem Sturz kehrten die Bewohner zurück und fluteten das Land regelrecht. Heute reisen englische Reisegruppen in diese traumhafte Ecke.
Es gibt Tourismus im Land?
Zur Pilgerfahrt Arbain reisten 2017 mehrere Millionen Menschen an, vor allem aus dem Iran. Aus Europa gibt es praktisch keinen Tourismus. Aber Irak ist kulturell und landschaftlich ein unglaublich reiches Land und weit mehr als nur Wüste. Im Nationalmuseum gibt es Schätze der Babylonier und Sumerer zu sehen.
Sie sind mit Ihrer Familie im Orient Express geflüchtet. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute Werbung für diese Zugreise sehen?
Dass ich sofort einsteigen würde. Ich habe sehr schöne Erinnerungen. Das war Anfang der 1960er-Jahre, der Zug war damals noch nicht so sauber und luxuriös wie heute, aber die Reise war wunderbar. Wir waren eine Woche lang unterwegs, mir kam das als Kind wie eine Ewigkeit vor. Es war ein unvergessliches Erlebnis.
Reisen Sie generell gerne im Zug?
Ja, sehr. Ich versuche wenn möglich, auf das Fliegen zu verzichten. Im Zug fühle ich mich als Mensch und nicht wie Fracht. Das Reisen ist körperlich entspannter im Zug: Man sieht etwas, hat mehr Platz und auch ein besseres Gefühl für die Distanzen. Grundsätzlich entdecke ich die Welt am liebsten gehend. Ich habe in Städten unglaublich viele Kilometer zu Fuss zurückgelegt. Wenn ich irgendwo auf der Welt in einem Hotel ankomme, egal wie müde ich bin, drehe ich immer zuerst eine Runde um den Block – aus purer Neugier.
Interview: Stefanie Schnelli, Bild: Dschoint Ventschr
Samir, 1955 im Irak geboren, begann in den 1980er-Jahren, eigene Filme zu realisieren. Bis heute hat er an über 40 Kurz- und Langspielfilmen mitgewirkt. Mit seiner Produktionsfirma Dschoint Ventschr, die er 1994 zusammen mit Karin Koch und Werner Schweizer übernahm, hat Samir sich für unzählige Spiel- und Dokumentarfilme engagiert. Als Regisseur und Autor einem grossen Publikum bekannt ist Samir für seinen Film «Snow White». In den Dokumentarfilmen «Iraqi Odyssey» und «Forget Baghdad» hat er sich mit seinen irakischen Wurzeln auseinandergesetzt. Samirs neuer Spielfilm «Baghdad in my Shadow» kommt im Winter in die Kinos. Samir ist Mitinitiant des Zürcher Kulturhauses Kosmos.