Federico Fellini wäre dieses Jahr hundert Jahre alt geworden. Seiner Heimatstadt Rimini blieb der Filmemacher immer verbunden. Das Leben in der malerischen Altstadt und an der berühmten Riviera hat sein gesamtes Werk geprägt.
Im imposanten neoklassischen Tempel herrscht Stille und schummriges Licht. Andächtig stehe ich vor dem eleganten Wandgemälde mit Windhund des berühmten Renaissance-Malers Piero della Francesca. Hinter mir schlurft ein älterer Mann vorbei. Am Ende der heiligen Halle angelangt, lässt er ungeniert einen lauten Furz fahren. Sein erleichterter Seufzer wabert noch in der Luft, als er schon durch eine Seitentür in der Sakristei verschwunden ist: Eine Szene wie aus einem Fellini-Film und noch dazu in seiner Heimatstadt. Die wunderschöne Altstadt könnte auch heute noch als Filmkulisse herhalten, doch das wissen die wenigsten Besucher des Badeortes an der Adria. Fellinis Rimini liegt nämlich nicht am Meer, sondern ein ganzes Stück landeinwärts.
Wer Rimini verächtlich als Teutonengrill abtut, irrt somit gleich mehrfach: Erstens sind die Partytouristen nach Mallorca weitergezogen, zweitens besitzt Rimini neben der Strandzone eine grosse, lebendige und intakte Altstadt, und drittens ist da eben das Phänomen Fellini. Der Kultregisseur (1920–1993) ist nicht nur in Rimini geboren und begraben, sondern hat hier eine Jugend verbracht, die ihm als Inspirationsquelle für sein gesamtes Schaffen gedient hat. Zwar hat er nie in Rimini selbst gedreht, sondern alles in den römischen Filmstudios von Cinecittà nachstellen lassen, doch blieb er der Provinzstadt sein Leben lang verbunden.
Am Strandabschnitt Nummer 10
Beginnen wir unseren Spaziergang am Strand. Die Besucher flanieren, joggen und radeln entlang der fünfzehn Kilometer langen Promenade mit ihren rund tausend meist familiengeführten kleineren Hotels. Zu den Gästen zählen Familien und Paare, die sich ein paar Tage am Meer gönnen. Bademeister Mirco, der seit 22 Jahren das Bagno, also den Strandabschnitt Nummer 10 gepachtet hat, findet nur lobende Worte für seine Klientel: «Unsere Besucher sind sehr freundlich, zurückhaltend und dankbar für jede kleine Annehmlichkeit, die ich ihnen biete», erzählt der 40-jährige heimische Bagnino. Zu den Extras, die zum obligaten Sonnenschirm, den zwei Liegen, WCs, Duschen und Umkleidekabinen hinzukommen, gehört ein Spielplatz für Kinder, ein Pingpongtisch, ein Kühlschrank, worin die Gäste Getränke und Essen aufbewahren, und die Pergola, wo sie im Schatten picknicken können. Gelegentlich kümmere er sich um den Stich eines Spinnenfischs oder Ausschläge nach dem Kontakt mit einer Qualle, und geht ein Kind verloren, wird per Funk der Kindersuchdienst alarmiert, ein Netzwerk, dem alle 250 Bagnini des Strandes angehören.
Da sich sein Bagno nicht direkt vor einem Hotel befinde, seien fast alle seine Schirme und Liegen an Einheimische vermietet, erzählt Mirco, für 500 bis 850 Euro pro Saison je nach Reihe: je weiter weg vom Meer, desto günstiger. Um die Corona-Vorgaben einzuhalten, stehen die Schirme und Liegen derzeit in grösseren Abständen. «Die Familienmitglieder wechseln sich am Strand ab», führt der schlanke, braungebrannte Bagnino aus. «Die Morgenstunden gehören den Grosseltern, am Nachmittag kommen Mütter mit Kindern und abends nach der Arbeit auch die Väter und jungen Männer.» Seine älteste Kundin sei über 90, und er begleite sie jeden Tag in kleinen Schrittchen bis zum Meeressaum, wo sie auf einem Stuhl mit den Füssen im Wasser sitze.
Doch Mirco plagen Sorgen. Er sieht seinen Lebensunterhalt durch ein EU-Gesetz bedroht, das offene und transparente Ausschreibeverfahren für Pachten verlangt, an denen sich alle EU-Bürger beteiligen könnten. Würde er von aggressiven ausländischen Konkurrenten verdrängt, müsste er ganz in den familiären Früchtegrosshandel wechseln, wo er bisher in den Wintermonaten ausgeholfen habe. Doch der Bademeister gibt sich kämpferisch: «Wir Bagnini werden uns gemeinsam wehren und von der EU eine Sondergenehmigung für unser bewährtes Geschäftsmodell verlangen.»
Fellini als Zaungast
Riminis Riviera, zwischen Meer und Bahngleisen gelegen, wirkt wie eine touristische Sonderzone. Aus dieser hebt sich einzig das über hundertjährige Grand Hotel heraus. Der weisse Jungendstilbau stammt aus einer Zeit, als die Stadt an der Adria zu einer der ersten Badedestinationen Europas zählte und in derselben Liga spielte wie Cannes, Biarritz oder Monaco. Der junge Fellini und seine Freunde waren damals als Zaungäste dabei: Versteckt in den Büschen des Hotelgartens beobachteten die Buben fasziniert das extravagante Gebaren der Reichen und Schönen, wenn sie in ihren Bugattis und Mercedes vorfuhren, bei Kerzenlicht dinierten und spätabends auf der Terrasse in glitzernden Abendroben zu amerikanischer Musik tanzten. In seinem Film «Amarcord» (im lokalen Dialekt: ich erinnere mich) hat Fellini nicht nur dem altehrwürdigen Hotel ein filmisches Denkmal gesetzt, sondern auch der Stadt seiner Kindheit mit allem Skurrilen, Märchenhaften und All-zu-Menschlichen.
Die meisten Szenen spielen allerdings in der Altstadt, die wie viele historische Siedlungen nicht direkt am Meer liegt. Das Wasser war früher das Reich der Piraten, von denen man Abstand hielt. Heute ist der Strand das Reich der Touristen, und auch hier bewährt sich eine gewisse Distanz. Die verwinkelten Altstadtgassen, die Plätze, Kirchen, Theater und Kinos bilden eine stimmige Kulisse für das südländische Leben: Alte Männer, die ihre herausgeputzten Hündchen an der Leine, im Velokorb oder auf dem Arm ausführen, eine Polizisten-Gang, die in Vollmontur ein Café entert, knatternde Vespas und lärmende Kinder, das Gemurmel und Gezischel von Betenden in den Kirchen und ohrenbetäubendes Gezeter einer prallen Mamma aus einem Fenster – Fellini wäre entzückt.
Das Kino aus Fellinis Kindheit
Am 20. Januar 2020 wäre der Maestro hundert Jahre alt geworden, und Rimini wollte dieses Jubiläum gebührend begehen: Das Art-Déco-Kino Fulgor, wo Fellini als Vierjähriger zusammen mit seinem Vater seinen ersten Film gesehen hat und wo viele seiner eigenen Werke Premiere feierten, ist liebevoll erneuert und mit modernster Technik ausgerüstet worden. Im Obergeschoss des Kinos und in der mittelalterlichen trutzigen Stadtburg Sismondo sind interaktive Ausstellungen zu Fellinis umfangreichem Œuvre entstanden. Insbesondere liegt dort sein «Libro dei Sogni», ein Traumtagebuch in Wort und Bild, das er auf Anraten seines Psychiaters während dreissig Jahren geführt hatte. Es ist ein verstörender Blick in die Seele eines Genies, seine intimsten Phantasien, Obsessionen und Traumata. Zwar haben seine Erben und Freunde das Buch zur Freude aller Fellini-Enthusiasten zur Veröffentlichung freigegeben, doch beim Durchblättern beginnt man zu zweifeln, ob er tatsächlich gewollt hätte, dass fremde Augen sein nacktes Innerstes begaffen.
Text: Lucie Paska
Gut zu wissen
In Rimini bewegt man sich am besten mit dem Rad. Die Stadt ist flach, die Distanzen sind beträchtlich und Parkmöglichkeiten rar. Viele Hotels stellen Mieträder zur Verfügung, zum Beispiel das moderne DuoMo, mitten in der Altstadt gelegen (duomohotel.com). Zum Essen empfiehlt es sich, über die 2000-jährige Tiberiusbrücke ins alte Fischerviertel San Giuliano überzusetzen, wo sich in den kleinen Lokalen die Einheimischen bekochen lassen. Allgemeine Informationen: riminiturismo.it
Kino Fulgor: cinemafulgor.com